Sibylle Severus im Merkur

Sibylle Severus, geb. 1937, Schriftstellerin. 2015 erschienen der Roman Nauenfahrt und die Erzählungen Die Große Kunst.
9 Artikel von Sibylle Severus

Bericht über die Drohne

Seit heute steht eine Drohne auf meinem Parkplatz. Unbemerkt ist sie dort gelandet. Bisher gab es keine unbemannten Flugobjekte in meinem Alltag. Die Drohne steht plötzlich auf dem Parkplatz, mitten in der Mitte, groß wie eine Kesselpauke. Sie lässt mir genug Platz. Ich könnte um sie herumgehen. Sie ruht, zuckt nicht, summt nicht, blinkt nicht, stört nicht. Die schwarze Skulptur steht auf hohen geknickten Beinen, die wie abgenagte Knochen aussehen. Dazu stürmt und blitzt es, der Regen prasselt schräg auf die

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Dort draußen oder Ännet dr Gränze

Der Zug, der mich zur Schwiegermutter bringt, beharrt darauf, nach Lausanne im freien Feld stehenzubleiben und sich nicht mehr von der Stelle zu rühren. Wir zweifeln, ob er je fahren wird oder gefahren ist. Wir mustern uns gegenseitig. Ein goldblondes Mädchen mit traurigem Mund weiß nicht, was Flirten ist. Sie lässt den jungen Mann gegenüber abprallen. Unsereins erinnert dagegen jahrelanges Knistern, klopfende Herzen, lodernde Bäume, zitternde Sterne und Anna Karenina, die sich vor den Zug warf. Die Schöne

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Pink

Die Idee, die Farbe Pink zu kreieren, muss während des Betrachtens von Sonnenaufgängen an Föhntagen entstanden sein. Der Rauch drückt sich dann quer aus den Kaminen. An solchen Tagen ist wenigstens der Morgen eindrücklich. Es dauert wenige Minuten, und das Farbspektakel ist vorbei. Eine dünne Mondsichel bleibt auf das Firmament gehaucht. Diejenigen, die einen Schirm besitzen, lassen ihn wegen des blauen Himmels zu Hause. Eine Stunde später: Wolkenbrüche. An solchen Tagen ist es absurd, eine Frisur – oder

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Vogelfederleichtigkeit

Im eintönigen Grau der Halle sitzt eine schmale Frau in leuchtend rotem Mantel. Sitzt regungslos, allein, als feuriger Farbfleck in der dämmrigen Zwischenwelt des Flughafens Marco Polo in Venedig. Auch ich bin – wie die Dame – zu früh am Zürich-Gate. Sie ist die Witwe eines Schweizer Schriftstellers, der es noch zu Lebzeiten in den Schulstoff geschafft hatte. Ich setze mich ein paar Reihen hinter die Frau in eine der Hartplastikschalen. Wir beide, zwei Witwen, warten ergeben wie vor dem Altar. Lange

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Fußball Spiele

Jedenfalls sagte die oberbayerische Hebamme, während sie auf meinen kleinen Hintern haute: »Scho wieder so a damisches Weibsbild!« Es war eine Frage der Höhe des Trinkgelds. So waren die Spielregeln 1937. Das erste Fußballspiel in einem richtigen Stadion, in einer richtigen Stadt erlebte ich im Alter von zwölf Jahren, kurz nach dem Krieg. Die Pubertät begann mich in Atem zu halten. Doch war ich noch nicht groß genug, von meinem Stehplatz aus über eine Wand von Männerrücken zu sehen. Vom Spiel begriff ich

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Ahornböden und Fichtendecken

Der Weg zum Violinunterricht führt an den ebenerdigen Fenstern eines Geigenbauers vorbei. Entweder hobelt er kleine Späne von Fichtendecken und Ahornböden, oder er schnitzt an einer Schnecke. Im Sommer weht ein festlicher Duft von frischem Holz und Lack aus dem Haus. In kalten Wintern wachsen Eisblumen an den Fenstern, dicht wie Vorhänge. Woche für Woche sah ich in des Geigenbauers Fenster, sah Berge von Holzlocken auf dem Boden. Meine Hände hatten Woche für Woche Lust, in das Gewölk hineinzufahren. Mich

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Zettel

I Meine Mutter und ich, ihr ältester Sohn, überlegten uns eine neue Bahn für den Vater, eine radikale Änderung seines Angestelltenlebens. Auf der Küchenbank saß ich und spürte eine starke Müdigkeit im Rücken. Ich suchte ein Kissen und bettete es auf den Rand des Blumenkübels, als Halt für das schwere Haupt. Der Topf steht auf dem rechten Winkel der Eckbank; ein Gummibaum arbeitete sich daraus empor. Wir waren an dem Punkt, uns auszumalen, wie wir innerhalb von drei Tagen versumpften, wie uns die Zügel aus der

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Nachtmusik

Alle Leute hatten die Wahl gehabt, spazieren zu gehen oder der Einladung des Künstlers in sein Haus zu einem Konzert zu folgen. Dass es ihn überhaupt in der Stadt gab, war so hübsch wie der Vollmond am Nachthimmel. Das Publikum, das im kleinen Saal des schmalen Hauses saß, hatte am Mond vorbeigehen müssen. Er leuchtete in bestem Goldton, eingepasst in das kreisrun-de Loch eines zwetschgenfarbenen Himmels. Die Leute hatten den Mond angesehen, und das Bild hatte sie sanft gestimmt. Es handelte sich meist um

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Das Auto ist eine Skulptur

Wir haben ein Auto. Natürlich haben wir ein Auto. Es ist brandneu, es riecht nach? Dafür muss zuerst ein Wort erfunden werden – es riecht nach balabar. Damit keine Fingerabdrücke auf dem Lack zurückbleiben, fassen wir es stets mit Handschuhen an. Selbstverständlich haben wir ein spezielles Auto. Wenn uns jemand fragt: Was haben Sie für einen Wagen?, nennen wir stolz die exklusive Marke des Gefährts. Nach unserem Lottogewinn schwankten wir zwischen einer Antiquität, ein paar Quadratmetern Industrieland

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