Heft 904, September 2024

Im geschlossenen System

von Sibylle Severus

Am Sonntagmorgen sind die Straßen der Stadt ausgestorben.

Als einziger Fahrgast steige ich aus dem Bus und gehe die eintönige, von Häusern gesäumte, von nass glänzenden Tramschienen geteilte Straße hinunter wie jeden Sonntag, wenn ich meinen Besuch mache. Meistens bringe ich ein Bündel frischgewaschener Wäsche.

Die Umhängetasche rutscht von der Schulter. Ich hänge sie quer über die Brust. Es hat geregnet. Das diffuse Stadtlicht verrät nichts über die Tages- oder Jahreszeit. Es kann Sommer, Herbst oder Winter sein, Morgen oder Nachmittag; es könnte diese oder jene Stadt sein, mit den immer gleichen Geschäften und den Kunststeingefäßen auf dem Trottoir, in denen Blumen stehen. Ich fasse sie an, die leuchtenden Primeln, sie sind echt.

Die Blumen und ich sind die einzigen Lebewesen.

Ein alter Mann tritt in mein Blickfeld. Er kommt die Straße herauf und geht wie viele alte Leute: langsam, den Kopf geneigt, die Augen in den Boden gebohrt.

Plötzlich klappt er zusammen, als hätte man einen Schirm zugemacht. Er fällt vornüber, mit dem Gesicht auf den Gehsteig.

Nein, denke ich, das ist doch nicht wahr!

Ich sehe mich um und weiß, dass ich der einzige Mensch weit und breit bin und also verantwortlich.

Der Mann hält den Kopf vom Asphalt weg und schaut mich an; eigentlich wie die Blumen, denn er sieht mich nicht wirklich. Meine Frage, ob er sich verletzt hätte, versteht er nicht. Allerdings höre auch ich meine Stimme nicht, meine Ohren übermitteln momentan keine Geräusche. Er schweigt, sieht mich mit kleinen Augen an und blutet aus der Oberlippe.

Ich versuche, ihm aufzuhelfen, doch ist er schwer wie ein Betonsockel, obwohl er wahrhaftig nicht groß ist. Endlich kommt ein Auto, ich halte es mit heftigem Schwenken meines rechten Armes an. Hätte mich auch vor den Kühler gestellt. Dem Gestürzten zugewendet, höre ich den Wagen ausrollen, sehr langsam. Zögernd steigt der Fahrer aus.

Helfen Sie mir bitte! sage ich.

Auch er kann den Mann nicht aufstellen. Aus meinem Bündel hole ich ein Handtuch und gebe es dem Senior.

Es ist ganz frisch, sage ich. Er hält das Tuch in der Hand, legt es jedoch weder an die Wunde noch seinen Kopf darauf.

Zwei Zuschauer sind dazu getreten.

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