Nachtmusik
von Sibylle SeverusAlle Leute hatten die Wahl gehabt, spazieren zu gehen oder der Einladung des Künstlers in sein Haus zu einem Konzert zu folgen. Dass es ihn überhaupt in der Stadt gab, war so hübsch wie der Vollmond am Nachthimmel.
Das Publikum, das im kleinen Saal des schmalen Hauses saß, hatte am Mond vorbeigehen müssen. Er leuchtete in bestem Goldton, eingepasst in das kreisrun-de Loch eines zwetschgenfarbenen Himmels. Die Leute hatten den Mond angesehen, und das Bild hatte sie sanft gestimmt. Es handelte sich meist um feinfühlige Menschen, die einen vollkommenen Septemberabend zu würdigen wussten.
Dichtgedrängt saßen sie auf hartem Holz. Der Künstler stand auf einem kaum erhöhten Podium, das Blasinstrument in Händen. Als völlige Stille eingetreten war, sagte er: »Ich muss meine weiße Schnur holen!«, und ging.
Das Konzert war nicht wochenlang vorher durch Publicity zum Ereignis gemacht worden. Man war mehr oder weniger unter sich, viele kannten den Hausherrn persönlich. Also lehnte man sich zurück, nahm das unterbrochene Gespräch wieder auf oder las das Programm.
Und doch fragten sich einige Leute, warum der Musiker – wenn er die weiße Schnur wirklich benötigte – nicht einen Vorrat von mindestens drei Stück in seinem Instrumentenkoffer hatte. Andere überlegten, ob es sich um den Talisman einer geliebten Person oder eines Medizinmannes handelte. Eine boshafte Frau aber hielt das Ganze für einen Gag, ähnlich dem des Seiltänzers, der einen vorgetäuschten Sturz im letzten Moment mit der linken Hand abfängt. Die guten Freunde wussten, dass der Musiker wirklich nur die eine weiße Trageschnur besaß, um daran sein Instrument zu befestigen.
Lange verhielt sich das Publikum geduldig. Die Ruhe des Künstlers, ja die Trägheit, mit der er hinausgegangen war, hatte besänftigend gewirkt – als heitere Gelassenheit des Gastgebers. Doch wie die schnellziehende Wolke den Mond von einer Sekunde zur anderen verbirgt, schlug die Stimmung um, ohne dass später jemand hätte sagen können, weshalb. Viele Leute bereuten plötzlich, nicht spazieren gegangen zu sein. Wahrscheinlich war es die giftige Person, die alles für einen Witz gehalten hatte, die zuerst aufsprang und rief: »Gehen wir! Helfen wir ihm suchen!«
Sofort erhoben sich alle. Sie drängten aus beiden Türen. Schulter an Schulter stiegen sie die enge Treppe hinauf und ergossen sich in die Privaträume des Fagottisten. In den Zimmerchen gab es nur schmale Pfade. Der Boden war angefüllt mit Gegenständen, Stapeln, Behältnissen aller Art. Flohmärkte schienen hier festgewachsen zu sein. Der Mann besaß einemillioneinhundertdreiunddreißig Dinge.
Eine Gruppe umstand eine Couch oder ein Bett, auf dem Berge von frischgewaschenen Hosen, Unterhosen, Hemden, Pullovern lagen. Jemand sagte: »Er scheint sie vom Garten, von der Wäscheleine, durch das Fenster direkt auf das Bett zu werfen.«
Ordentlich veranlagte Männer wie Frauen begannen Hemden und Hosen glattzustreichen und zusammenzulegen. Andere warfen Zerrissenes und Ausgebeultes in den weißen Plastiksack einer Altkleidersammlung.
»Halt!«, rief der Künstler, »die Sachen brauche ich zum Arbeiten.«
Schuldbewusst zogen die Leute die Kleider wieder heraus. Sie fragten, wo sie die geordneten Stapel einräumen könnten. Im zweiten Stock, in den Wandschränken, bestimmte der Mann.
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