Vogelfederleichtigkeit
von Sibylle SeverusIm eintönigen Grau der Halle sitzt eine schmale Frau in leuchtend rotem Mantel. Sitzt regungslos, allein, als feuriger Farbfleck in der dämmrigen Zwischenwelt des Flughafens Marco Polo in Venedig. Auch ich bin – wie die Dame – zu früh am Zürich-Gate. Sie ist die Witwe eines Schweizer Schriftstellers, der es noch zu Lebzeiten in den Schulstoff geschafft hatte. Ich setze mich ein paar Reihen hinter die Frau in eine der Hartplastikschalen. Wir beide, zwei Witwen, warten ergeben wie vor dem Altar.
Lange steht unser Propellerflugzeug mit laufenden Motoren auf dem Flugfeld. Bis es plötzlich aufjault und das schwere Gerät sich bewegt. Es erinnert mich an den Adler damals, der bis zum Rand seiner Bergkuppe wankte, um von dort in weiten Bögen, getragen von der Thermik, dem Tal entgegen zu segeln.
Unser Adler aber ist von ältester Bauart. Als er losprescht, drückt es uns Passagiere gegen die Rücklehnen. Neben mir sitzt, der reine Zufall, die Witwe des Dichters. Es mag vielleicht täuschen, »doch ein wenig verbrüht und verbrannt, ja, ja« (Robert Walser) sind wir beide schon, ich und die Witwe des Dramatikers, sie im roten Mantel.
Wir fliegen über braune Wasser und unzählige Inseln flach über die Adria hin. Venetien schwimmt in seinen Lagunen. Sie glitzern und gleißen in der Sonne wie der Satin des Laute spielenden Kindes auf einem Gemälde von Carpaccio.
Ab und zu schiebt sich eine Gaze, eine Idee von Nebel, zwischen Himmel und Erde. Unten auf dem Wasser stehen winzige Schiffe. Eine dichte, braune Luftschicht liegt über der Po-Ebene, die in Hunderte von schnurgeraden Rechtecken eingeteilt ist. Bald schieben sich weiße Wolken über den Luftfilz, der so schmutzig ist, wie es die Wasser von Venedigs Lagune sind.
Manchmal scheint es, als komme der Flieger nicht vom Fleck. Doch plötzlich stoßen gewaltige Gletscher, Spitzen und Zacken aus den Wolken, ein schäumendes Wellental höchster Berge; eine aufgefaltete, in blendendes Gletscherweiß gehüllte Gegenwelt. Über allen Gipfeln Erhabenheit, doch keine Ruh: Fluglärm auf zehntausenddreihundert Metern. Die Berge unten sehen aus wie uralte Walfische, Schaum auf den Rücken. Schon beginnt der Sinkflug. Das Land um Zürich ist nur noch ein bisschen aufgeworfen, sieht aus, als schmolle es.
Das Landen dauert, und mit dem Aussteigen geht es auch nicht vorwärts. Eine Pannenkettenreaktion? Aus Langeweile sage ich, mehr in die Luft als zu meiner Nachbarin, in einem Flieger fiele mir jedes Mal wieder ein spezielles Erlebnis ein, das ich vor Jahrzehnten gehabt hätte.
»Erzählen Sie!«, sagt die Frau im roten Mantel.
Beschwingt beginne ich: »Meine jugendliche Begeisterung für die Raumfahrt und die erste Mondlandung im heißen Juli 1969 kannte keine Grenzen. Meine Helden in dieser Zeit waren Neil Armstrong, Buzz Aldrin und Mike Collins. An jenem heißen Sonntag dachte ich aber nicht nur an die Astronauten. Wegen eines Cellos, das ich hatte verkaufen wollen, stand ich im Amsterdamer Flughafen Schiphol und wartete auf die letzte Maschine nach Zürich.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.