Heft 902, Juli 2024

Maschkera

von Sibylle Severus

Niemand kennt Olga Fürst. Eine Touristin, denken die Einheimischen, wenn sie die Frau überhaupt wahrnehmen.

Unbehelligt geht das Ehepaar Fürst zum Wasserfall. Es hält Ausschau nach Aurikeln, nach den dottergelben Alpenblumen, die sich auf exponierten Felsbändern festkrallen. »Schmalzer« ist der Name für die fetten Primula auricula bei den Hiesigen, und alles an ihr, von der Blüte bis zur Wurzel, ist hochgiftig. Die Blumen leuchten wie Gold vor grauem Fels. Jahr für Jahr kraxeln die Jungen durch brüchiges Gestein, brocken die Schmalzer und stecken sie an ihre Hüte, auch heute noch.

Ein älteres, fremdes Paar steht am hölzernen Geländer und sucht mit den Augen die Felswand hinter dem Wasserfall ab.

»Nichts!«, sagt der Fremde, »ich habe vergessen, ob sie vor oder nach den Enzianen blühen.«

»Gibt es wirklich Touristen, die genau wissen, wo unsere Schmalzer wachsen?«, fragt die Fürst leise ihren Gatten, der mit den Schultern zuckt.

Der Fremde, nicht größer als Olga Fürst, dreht den Kopf, als wittere er Parfüm.

Er sieht die Frau forschend an. Streng schauen sie einander ins Gesicht: »Franz!«, ruft die Frau. »Olga!«, ruft der Mann.

Sie fallen einander in die Arme, vor tosendem Wasser, vor ihren perplexen Gatten, an uraltem Hexenort. Olga hüpft vor Freude, trotz der Abgründe ringsherum.

Doch Franz klagt: »Ausgerechnet wenn ich meiner Kindheitsfreundin, meiner Jugendliebe, nach so vielen Jahren begegne, muss mir ein Zahn fehlen – ausgerechnet heute!«

»Die Zahnlücke sieht man kaum, ist doch egal«, lacht Olga.

»Ist nicht egal«, sagt der Mann finster, »mir eben nicht!« Noch vor dem stäubendem Wasserfall beginnt das Erzählen, das Aufwickeln von Fäden, schreiend, das Tosen übertönend.

Der Weg hinunter ins Tal ist schmal. Die vier gehen hintereinander, setzen vorsichtig Fuß vor Fuß wie die Kühe beim Almabtrieb. Reden über Schultern zurück, rufen nach vorn, Enziane, die vielen Enziane – wie Tintenspritzer –

Franz schreit nach hinten: »Die Schmalzer blühen noch nicht, ist zu früh.« –

»Oder zu spät«, ruft Olga.

»Weißt du noch?«, sagen sie. »Schau nur! Das ist«, sagen sie.

Komm, spiel was! sagt die Fürst zu Franz, als sie im Kindheitshaus angekommen sind.

Das Haus, ein gestrandetes Schiff. Olga muss aus dem Ausland anreisen, wenn an dem Fass ohne Boden etwas birst oder rinnt oder Dachlawinen Bürger gefährden.

»Diese Unordnung, grauenhaft!«, sagt Olga, »wir sind ja nie hier, und das Klavier ist natürlich verstimmt.« Als der schwarze Deckel zurückgeschlagen wird, liegt dicker Staub in den Ecken der Tastatur. Franz schraubt den runden Sitz des Klavierhockers hoch.

»Wie in alten Zeiten«, sagt er. Das Kind in ihm jagt den Sitz hinauf und hinunter, bis er wie toll aus dem Fuß springt und polternd davontorkelt. Franz lacht sein opulentes Lachen, er hat es nicht verlernt.

Und dann sagt Franz, er könne nichts, habe seit Jahren kein Klavier mehr angerührt.

»Wieso? Du bist doch Pianist!«, ruft Olga.

»Wieso, wieso – ich habe kein Instrument.«

»Aber, ihr seid doch nicht arm?«

»Nein, wir sind nicht arm.«

»Spiel einfach!«, sagt Olga, »Ich möchte den alten Kasten hören! Spiel irgendetwas, Tonleitern –«

Franz schraubt den Stuhl zusammen und setzt sich.

Das große Zimmer ist ungeheizt und mehr Magazin als gastlicher Raum.

Die Hälfte der kleinen Gesellschaft ist sich fremd, ist überrumpelt, leidet mit Franz, der nicht spielen mag. Endlich strafft er die Schultern, hebt den Kopf, tippt mit zwei Fingern die Tasten an. Töne, leicht wie Rauchringe, lässt er los, bevor er davongaloppiert, Hürden und Gräben überfliegt, sich zügelt, Geschichten erzählt, den Raum mit Sang und Klang und Saus und Braus erfüllt.

»Wahnsinn!«, flüstert Olgas Gatte. Die Vasen auf den Möbeln tänzeln. Begeisterung drückt die drei in die Stuhllehnen.

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