Maschkera
von Sibylle SeverusNiemand kennt Olga Fürst. Eine Touristin, denken die Einheimischen, wenn sie die Frau überhaupt wahrnehmen.
Unbehelligt geht das Ehepaar Fürst zum Wasserfall. Es hält Ausschau nach Aurikeln, nach den dottergelben Alpenblumen, die sich auf exponierten Felsbändern festkrallen. »Schmalzer« ist der Name für die fetten Primula auricula bei den Hiesigen, und alles an ihr, von der Blüte bis zur Wurzel, ist hochgiftig. Die Blumen leuchten wie Gold vor grauem Fels. Jahr für Jahr kraxeln die Jungen durch brüchiges Gestein, brocken die Schmalzer und stecken sie an ihre Hüte, auch heute noch.
Ein älteres, fremdes Paar steht am hölzernen Geländer und sucht mit den Augen die Felswand hinter dem Wasserfall ab.
»Nichts!«, sagt der Fremde, »ich habe vergessen, ob sie vor oder nach den Enzianen blühen.«
»Gibt es wirklich Touristen, die genau wissen, wo unsere Schmalzer wachsen?«, fragt die Fürst leise ihren Gatten, der mit den Schultern zuckt.
Der Fremde, nicht größer als Olga Fürst, dreht den Kopf, als wittere er Parfüm.
Er sieht die Frau forschend an. Streng schauen sie einander ins Gesicht: »Franz!«, ruft die Frau. »Olga!«, ruft der Mann.
Sie fallen einander in die Arme, vor tosendem Wasser, vor ihren perplexen Gatten, an uraltem Hexenort. Olga hüpft vor Freude, trotz der Abgründe ringsherum.
Doch Franz klagt: »Ausgerechnet wenn ich meiner Kindheitsfreundin, meiner Jugendliebe, nach so vielen Jahren begegne, muss mir ein Zahn fehlen – ausgerechnet heute!«
»Die Zahnlücke sieht man kaum, ist doch egal«, lacht Olga.
»Ist nicht egal«, sagt der Mann finster, »mir eben nicht!« Noch vor dem stäubendem Wasserfall beginnt das Erzählen, das Aufwickeln von Fäden, schreiend, das Tosen übertönend.
Der Weg hinunter ins Tal ist schmal. Die vier gehen hintereinander, setzen vorsichtig Fuß vor Fuß wie die Kühe beim Almabtrieb. Reden über Schultern zurück, rufen nach vorn, Enziane, die vielen Enziane – wie Tintenspritzer –