Heft 908, Januar 2025

Über die Hochstapelei

von Sibylle Severus

Nachmittags schlafe ich ohne Scham, während die Welt tätig ist. Im Schlaf esse ich eine Birne oder stelle mir vor, eine Birne zu essen. Es macht mich wunschlos und darum glücklich, nicht aufstehen zu müssen, um eine Birne zu essen. Schlimmer: eine Birne zu kaufen oder von einem Baum zu stehlen, nur um den Saft der zart-süßen Frucht im Mund zerfließen zu lassen.

Ein freier, wenn auch schlafender Mensch bin ich, der zwar gerne isst, von diesem Wunsch aber nicht tyrannisiert wird. Nachmittags bin ich die heitere Schäferin meiner Einschlafschafe und habe keinen Grund zur Klage.

Es fehlen mir höchstens fünfzigtausend und eine Birne.

Ließe sich mit einigem Fleiß legal erwerben: zwanzig für die Studien der Kinder, zehn für die Zahnärzte, eine Reserve für den Mittagsschlaf im Alter, den Rest für Spesen, die ich als Spesengrundkapital brauche.

Die Glanzzeit aller Hochstapelei waren die achtziger Jahre. Vorbei! Das liegt nicht an mir, ich bin immer noch gut. Doch früher konnte ich leichten Sinnes behaupten, eine Bankiersgattin zu sein, die im Geld schwimmt, selbst wenn mir etwas Cash fehlte. Heute würde mich jedes Kind mit einem einzigen Klick entlarven. Mit Heinzelmanns Hilfe wurde auch im letzten Jahrhundert kein Geld gemacht. Doch handeln konnte der Mensch, mit Ideen, mit Dingen, die keine Dinge waren, mit Behauptungen, mit einem Tick. Auch im Paradies hätte sich nichts und abernichts entwickelt, wenn nicht das Apfelverbot Dynamik in die Idylle gebracht hätte.

Meine Idee war die Sache mit der Stradivari. Bin ja gelernte Geigenbauerin, eine von der ersten Auflage, war lange ein Männerberuf. Ich heiratete, was mir auf der Geigenbauschule übelgenommen wurde, hatte ich doch seriöse Schüler um einen Studienplatz gebracht, nur um mich später aushalten zu lassen.

Als ich noch Geigenbauerin war, kamen mit teuren Instrumenten ausgestattete Musiker ins Atelier und weinten. Ein Idiot, eine Idiotin hatte sich auf eine Violine oder in ein Cello gesetzt. Auch zerbrachen im Streit um den Platz innen oder außen am Pult unersetzliche französische Bögen. Ein Geiger suchte zum Beispiel verzweifelt eine einzelne, originale Decke von Antonius Stradivarius (nach 1701 und mit Zertifikat) für seine ruinierte Geige.

Musizierende sind sinnlich und plaudern viel. Dies und das kommt einem in einer Werkstatt zu Ohren.

Es gebe – so hieß es – in Florenz eine Familie, die habe in einer Vitrine eine einzelne, einsame, jedoch originale Decke einer Stradivari. Verloren hänge die hinter Glas, sinn- und zweckentfremdet, während sich unser Geiger die Augen ausweinte, weil sich seine Tussi im Liebestaumel in seine Kostbarkeit fallen ließ.

Damals hielt ich meinen Mittagsschlaf, den ich schon in jungen Jahren zu meiner Seligkeit brauchte, im Cello-Lager. Ich breitete meine Arbeitsschürze auf den Boden und schlief ein Viertelstündchen zwischen der nach Lack und Harz duftenden Herde. Dort und nirgends anders kam mir die Idee, alles Geld zusammenzuwerfen, auch auszuleihen, und augenblicklich nach Florenz zu reisen, um die Geigendecke zu kaufen. Im Halbschlaf spielte ich noch mit anderen Möglichkeiten der Aneignung: reines Gedankenspiel, das mich erfrischte und mobilisierte.

Mein Italienisch ist keines. Doch die florentinische Familien ältester Abkunft war welt- und sprachgewandt.

Wir wichen ins Englische aus. Am Telefon zeigte sich die Sprecherin des Clans bereit, die Interessentin für die Reliquie zu empfangen und, falls Einigkeit über den Preis zu erzielen wäre, das Teil sogar zu verkaufen.

Der weinende Geiger und seine Versicherung waren potent, finanziell. Meiner Reise stand nichts im Weg, außer meine Säuglinge. Der Vater der Kleinen absolvierte damals eine Ausbildung fern von uns. Doch wollte meine selbstlose Schwester übers Wochenende die Schar hüten. Erst Montagmorgen, Punkt neun Uhr, hatte sie die Apotheke wieder aufzuschließen.

Kostengünstig fuhr ich per Bahn von Zürich nach Florenz.

Zurück wollte ich fliegen, der Säuglinge wegen.

Ein Taxifahrer chauffierte mich durch die ganze Stadt. Schließlich fand er empirisch mitten in der City den Palazzo.

Meine Intuition riet mir, unbedingt alleine aufzutreten: elegant und gewandt, mit einem Mäppchen voller Schweizer Franken. Eine Mappe, groß genug für eine Geigendecke, eingewickelt in ein handbemaltes Seidentuch von Hermès, dem Gott der Diebe. Vorläufig war die Echarpe noch über mein Kostüm drapiert.

Meine Intuition sagte mir auch, dass ich keinesfalls Geigenbauerin, also Händlerin, sein durfte. Es gibt unter alten Familien Leute, die verschenken lieber ihr Kunstgerümpel oder essen es auf, als dass sie einem Händler sein Brot gönnten. Von dieser Art waren die Florentiner. Ich hörte das aus der Sprechmelodie; es kam in messbaren Schwingungen deutlich durchs Telefon über alle Landesgrenzen hinweg.

Was aber wollten die, das ich sein sollte?

Ich dachte, so reich, dass Geld in meinem Wortschatz nicht vorkam, kunst- und gottesfürchtig. Beruf? – du liebe Zeit! – Bankiersgattin oder so, mit einem extravaganten Geigendecken-Tick.

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