Heft 891, August 2023

Zettel

von Sibylle Severus

I

Meine Mutter und ich, ihr ältester Sohn, überlegten uns eine neue Bahn für den Vater, eine radikale Änderung seines Angestelltenlebens.

Auf der Küchenbank saß ich und spürte eine starke Müdigkeit im Rücken. Ich suchte ein Kissen und bettete es auf den Rand des Blumenkübels, als Halt für das schwere Haupt. Der Topf steht auf dem rechten Winkel der Eckbank; ein Gummibaum arbeitete sich daraus empor.

Wir waren an dem Punkt, uns auszumalen, wie wir innerhalb von drei Tagen versumpften, wie uns die Zügel aus der Hand führen, wir jede Orientierung verlören und schnell verrottend, von der Fürsorge knapp am Leben erhalten würden.

Den Kopf am Gummibaum wusste ich, dass ich längst den Aufsatz hätte schreiben sollen, den ich in der Deutschstunde nicht geschrieben hatte. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, als erwachsener Mensch mit fast zwanzig Jahren auf einem Kinderstuhl sitzend, innerhalb von vierzig Minuten meine Gedanken zu Themen aufzusagen, die ungenau formuliert und weder unserem Verstand noch unserem Alter angemessen waren. Also habe ich Autos gezeichnet, die der Lehrer nicht bewerten wollte. Ich hätte den Aufsatz Montagmorgen, acht Uhr, abzugeben. Es war Sonntagabend, neunzehn Uhr.

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