Heft 891, August 2023

Zettel

von Sibylle Severus

I

Meine Mutter und ich, ihr ältester Sohn, überlegten uns eine neue Bahn für den Vater, eine radikale Änderung seines Angestelltenlebens.

Auf der Küchenbank saß ich und spürte eine starke Müdigkeit im Rücken. Ich suchte ein Kissen und bettete es auf den Rand des Blumenkübels, als Halt für das schwere Haupt. Der Topf steht auf dem rechten Winkel der Eckbank; ein Gummibaum arbeitete sich daraus empor.

Wir waren an dem Punkt, uns auszumalen, wie wir innerhalb von drei Tagen versumpften, wie uns die Zügel aus der Hand führen, wir jede Orientierung verlören und schnell verrottend, von der Fürsorge knapp am Leben erhalten würden.

Den Kopf am Gummibaum wusste ich, dass ich längst den Aufsatz hätte schreiben sollen, den ich in der Deutschstunde nicht geschrieben hatte. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, als erwachsener Mensch mit fast zwanzig Jahren auf einem Kinderstuhl sitzend, innerhalb von vierzig Minuten meine Gedanken zu Themen aufzusagen, die ungenau formuliert und weder unserem Verstand noch unserem Alter angemessen waren. Also habe ich Autos gezeichnet, die der Lehrer nicht bewerten wollte. Ich hätte den Aufsatz Montagmorgen, acht Uhr, abzugeben. Es war Sonntagabend, neunzehn Uhr.

Auf dem Rand des Kupferkessels lag mein Kopf. In meiner Position glich der Gummibaum einer hundertjährigen Heugabel, nur noch Holz. An der Spitze der wenigen Äste wachsen spärliche Blätter: links oben sieben, rechts dreizehn. In der Verzweigung der beiden Äste sitzt ein Büschel mit einigen neuen Blättern, das Grün matt vom Küchendampf.

Zur Verlobung hatten die Eltern das Bäumchen bekommen, vollgepumpt mit Dünger. Dreiundzwanzig Jahre durfte es mitvegetieren, unregelmäßig genährt von den Resten aus Mineralwasserflaschen.

Viel Leben ist nicht in dem hoch aufgeschossenen Strunk. Das Wenige hatte sich tapfer und zäh den Umständen angepasst, deformiert von der Wurzel bis zur Spitze. In einem Museum hatte ich einen Gummibaum gesehen, der erhob sich aufrecht und gerade aus seinem Gefäß bis zu meiner Höhe. Blatt für Blatt, drall, glänzend und groß wie eine Fleischplatte, wuchs er in wunderbarer Symmetrie aus seinem Stamm: oben die jungen, unten die alten Blätter.

Die Mutter und ich hatten festgestellt, wenn der Vater vom Büro komme, habe die Firma alle Substanz verbraucht. Obwohl er und seine Eltern ein teures und langes Studium auf sich genommen hatten. Die Arbeit sei täglich so bemessen, dass sie zwei Stunden über dem Leistungssoll liege. Um eigene, selbst bestimmte Aufgaben zu erledigen, verbrauche der Vater die für jeden Menschen notwendige Ruhezeit. Er habe weder Kraft noch Muße, auch noch sozial zu sein.

Zum Gummibaum schaute ich hinauf und sagte: »Ich selbst hätte gern eine lebendige Pflanze im Zimmer. Doch der Druck, die Pflicht, ihr Wasser geben zu müssen, wäre größer als die Freude an ihr.« Meine Mutter, die über unserer Diskussion den Aufsatz keine Sekunde vergessen hatte, sagte: »Schreiten wir also zur Tat!«

Aufspringend warf ich einige Gegenstände zu Boden. Wie ich war, lief ich in die Stadt, die unvorstellbar kalt war. Ich hätte die Frau schlagen mögen. Sie hatte das lebenswichtige Gespräch nur gespielt, hatte ein wenig geplaudert, während sie einzig und allein daran dachte, mich durch die Schule und in die Bahn des Vaters zu peitschen.

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