Dort draußen oder Ännet dr Gränze
von Sibylle SeverusDer Zug, der mich zur Schwiegermutter bringt, beharrt darauf, nach Lausanne im freien Feld stehenzubleiben und sich nicht mehr von der Stelle zu rühren.
Wir zweifeln, ob er je fahren wird oder gefahren ist.
Wir mustern uns gegenseitig.
Ein goldblondes Mädchen mit traurigem Mund weiß nicht, was Flirten ist. Sie lässt den jungen Mann gegenüber abprallen. Unsereins erinnert dagegen jahrelanges Knistern, klopfende Herzen, lodernde Bäume, zitternde Sterne und Anna Karenina, die sich vor den Zug warf.
Die Schöne zieht ein Gümmeli aus dem Haarschopf, wirft die glänzende Mähne zurück, streicht sie mit schimmernden Händen nach hinten; dreimal wird erneut umgümmelet und das Haar – ruckzuck – straff gezogen.
Der Mann und ich sind begeistert.
Das Mädchen übersieht ganz unwillkürlich Personen, die älter als zweiundzwanzig sind.
Draußen fliegen die Vögel tief.
Selbst bunte Autos sehen farblos aus.
Eine Durchsage: »Technische Störung. Für die Verspätung bitten wir um Verständnis«, dasselbe auf Französisch und Englisch. Und wir, wir haben ein Einsehen. Selbst wenn ich den Kopf unter dem Arm trüge, dächte der – wieder Kind: Wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.
Zu spät im Seniorenheim angekommen, führt mich meine Schwägerin zu ihrer Mutter, meiner Schwiegermutter.
»Angst!«, sagt die alte Frau.
Es ist weniger ein Sprechen als ein Hervorstoßen des Worts, unartikuliert, ein dumpfer Ruf.
»Angscht!«, stammelt sie. Wir fragen: »Wovor hast du Angst? Fürchtest du dich vor jemand?«
Es sieht aus, als schüttle die Urgroßmutter den Kopf. »Angscht!«, beharrt sie. Wir glauben zu wissen, wovor sie sich fürchtet, und reden auf sie ein: »Du musst keine Angst haben! Du hast alles im Leben so gut gemacht, wie es in deinen Kräften stand.«
Oder: »Mit Bewunderung denken wir an dein Klavierspiel! Du konntest unglaublich improvisieren.«
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