Heft 889, Juni 2023

Das Leben der Drohnen

von Moritz Rudolph

Revolutionen treten plötzlich auf und machen große Versprechungen, brauchen dann aber eine ganze Weile, um sie einzulösen – was meist nur auf verschobene Weise gelingt. Das ist in der Politik nicht anders als bei Technologien. Als im 19. Jahrhundert die Luftfahrt begann, ahnten viele, dass dies etwas Großes sein würde. Victor Hugo schrieb 1864: »Erlösen wir den Menschen. Wovon? Von seinem Tyrannen.« Welchem Tyrannen? Der »Schwerkraft«, mit der Krieg, Ausbeutung, Hass und Knechtung »jeden Existenzgrund verlieren«. Auch der Astronom Camille Flammarion erwartete eine neue Ära und einen neuen Menschen, der fortan alle Grenzen mühelos überspringt und nebenbei den ewigen Frieden durchsetzt: »Wenn die Eroberung der Lüfte einmal gelungen ist, kehrt Brüderlichkeit auf der ganzen Erde ein, wahrer Friede senkt sich vom Himmel, die letzten Reste des Kastenwesens werden verschwinden.« Dazu ist es bis heute nicht gekommen.

Doch im Windschatten der großen Flugzeuge entwickelten sich über Jahrzehnte hinweg winzig kleine, die von allein fliegen, sogenannte Drohnen. Sie schicken sich an, die Verheißungen der Luftfahrt tatsächlich zu erfüllen und unsere Seinsweise umzukrempeln, wenn auch nicht immer auf angenehme Weise. Sie töten und zerstören, retten Leben und bauen auf, schützen die Natur und stellen Produkte her, transportieren Menschen, Waren und Raketen, löschen Feuer, überwachen, strafen, disziplinieren und erreichen jeden Winkel der erdnahen Atmosphäre, so dass man sie ohne Übertreibung als die neuen Lufthoheiten dieser Welt bezeichnen kann.

Herren am Himmel

Wie jede Technologie verdanken Drohnen ihren Durchbruch dem Krieg. Anfangs eine technische Spielerei, hatte man im Ersten Weltkrieg damit begonnen, unbemannte Flugobjekte für militärische Zwecke zu nutzen – zunächst für Aufklärungsarbeiten. Im Vietnamkrieg durchleuchteten sie den Dschungel auf der Suche nach dem Vietcong. Im Kampf gegen den nahöstlichen Terror waren sie schon mit Raketen bestückt, verschoben die Grenzen zwischen Krieg und Nichtkrieg und machten Jagd auf Terroristen, die allerdings nicht auf gleiche Weise antworten konnten. Der Drohnenkrieg blieb asymmetrisch. Er war Guerillakampf von oben, der die Strategie des Gegners kopiert hatte.

Nun, in der Ukraine, im ersten zwischenstaatlichen Drohnenkrieg der Geschichte, werden Drohnen von beiden Seiten im großen Stil eingesetzt und könnten die Entscheidung herbeiführen. Russland verwendet eigene Fabrikate, die ihm aber auszugehen drohen, weshalb es sich hilfesuchend an Teheran und Peking wendet. Die Ukraine bekommt sie vom Westen, aber auch aus der Türkei, deren Kampfdrohne »Bayraktar« hymnisch gefeiert wird. Nach Einschätzung von Experten hat sie entscheidend zum Überraschungserfolg der Ukraine in den ersten Kriegswochen beigetragen. In der Schlacht um Kiew konnte sie so manchen russischen Panzer zerstören. Inzwischen hat Russland jedoch seine Luftabwehr verbessert und einen Umgang mit der Wunderwaffe gefunden, so dass die Ukraine nach neuen Typen Ausschau halten muss. Derzeit nutzt sie vor allem »Kamikaze«-Flugroboter, die die russische Elektromauer durchbrechen können und, nachdem sie ihr Ziel erfasst haben, explodieren (wodurch zugleich der suizidale Terrorist ins Wesen der Drohne aufgenommen wurde). So geht es hin und her, und die Modelle verbessern sich rasch. Die ganze Welt weiß um die Rolle der automatischen Luftkrieger und treibt die Drohnentechnologie voran; denn klar ist: Ohne gute Drohnen gewinnt man heute keinen Krieg mehr.

Drohnen haben den Vorteil, dass sie das Leben der eigenen Soldaten schonen und im Vergleich zu anderem Kriegsgerät billig zu produzieren sind. Das stößt auch bei postheroischen Gesellschaften auf Interesse, die dem Opfer abgeschworen haben und lieber Roboter als Soldaten schicken. Völlig gefahrenfrei können sie hinter den feindlichen Linien operieren, Stellungen ausfindig machen und Ziele beschießen. Oft sind sie so klein, dass sie unter dem Radar fliegen, sie können beobachten, ohne gesehen zu werden. Und geht dabei doch einmal etwas schief, hält sich der Schaden in Grenzen, da weder das Leben der Piloten auf dem Spiel steht noch die horrenden Materialkosten der Flugzeuge zu Buche schlagen. Drohnen können billig und ohne Risiko töten, spionieren und transportieren.

Das macht sie auch für andere, zivile Bereiche interessant, die im Windschatten der militärischen Nutzung nach und nach erschlossen wurden. Die Mühelosigkeit, mit der sich die kleinen Flugroboter über Grenzen und Distanzen hinwegsetzen, erleichtert nämlich vieles: Nahrung und Medizin können in abgeschnittene Gebiete geschickt werden (die Rosinenbomber der Berliner Luftbrücke verlangen heutzutage keine Heldentaten mehr, sondern lediglich eine gut programmierte Drohnenflotte) – und schon bald ganze Warencontainer, die nicht mehr auf Eisenbahnen durch die Landschaft rollen oder im Schiffsbauch über den Ozean schippern, sondern behände um den Erdball gleiten. Weiterhin verfolgt die Polizei mithilfe von Drohnen Verkehrssünder und spürt Kriminelle auf, die Regierung überwacht den öffentlichen Raum, Geheimdienste spionieren im Ausland und nehmen Verfolgungsjagden auf. Rettungskräfte erkunden die Lage aus der Luft, bevor sie selbst eingreifen, die Feuerwehr löscht Brände per Fernsteuerung, Stromunternehmen reparieren ihre Leitungen, Landwirte düngen die Felder, vernichten Unkraut und säen aus – manche Drohnen sollen bis zu einhunderttausend Bäume am Tag pflanzen können. Andere fliegen in Höhlenschächte, um nach Rohstoffen zu suchen, putzen Fenster, bringen Pizza oder die Post. In Sichuan werden Wasserdrohnen gegen die Dürre eingesetzt, und in Shenzhen, der Drohnenhauptstadt der Welt, sind bereits Lufttaxis unterwegs, die bald auch den Himmel über Europa bevölkern sollen. Airbus arbeitet ebenfalls an entsprechenden Modellen – um zunächst den Flughafen-Shuttle-Betrieb und dann auch den alltäglichen Verkehr zu revolutionieren.

Dank ihnen sehen unsere Städte wohl bald so aus, wie futuristische Entwürfe es sich seit Jahrhunderten vorstellen: in den Himmel verlegt und von zahllosen Apparaten, Kapseln und Fluggeräten umschwirrt. Die Hochhausbauten des 20. Jahrhunderts bekommen so nachträglich einen Sinn, der über phallische Projektion oder die Flucht vor horrenden Grundstückspreisen hinausgeht – man kann sehr gut sehr weit oben leben und dadurch den Boden schonen, der unter der Last von acht Milliarden Menschen ächzt. Außerdem kann man sich ab einer gewissen Höhe eine frische Brise ins Gesicht wehen lassen, was in Zeiten des Klimawandels sehr angenehm ist.

Luftmenschen

Welche Folgen hat nun der Eintritt ins Drohnenzeitalter? Am offenkundigsten ist die Möglichkeit der permanenten Überwachung. Drohnenaugen erreichen jeden Winkel, in dem sich Menschen aufhalten. Diese werden nicht mehr nur belauscht, wie mit den Wanzen des 20. Jahrhunderts, sondern beobachtet. Neben das große Ohr tritt ein gigantisches Auge, das bald, wenn die Technologie der Gesichtserkennung weit genug fortgeschritten ist, die innersten Wünsche, Ängste und Geheimnisse einer Zielperson entschlüsseln kann – nicht nur im öffentlichen Raum, dem Gebiet der installierten Überwachungskameras, sondern auch im Privaten, so dass es keine toten Winkel mehr gibt, in denen sich ungestraft Leben abspielen kann.

Drohnen, so groß wie Kolibris, Libellen oder Bienen, können auf jedem Fensterbrett Platz nehmen oder durch einen Spalt, vielleicht sogar ein Schlüsselloch, in die Wohnung eindringen, wo sie dann, zwischen all den Wespen, Maikäfern und Schmeißfliegen nicht auffallen. Außerdem kann die Überwachungs- mit einer Straftechnik bestückt werden, so dass die Späher zugleich Vollzieher sind, die Pfeile, Kugeln, Bomben oder kleinere Rügen verteilen. Dies schafft ein permanentes Unsicherheitsgefühl, eine Situation, in der jederzeit aus heiterem Himmel ein Blitz einschlagen kann, der einem unsichtbaren höheren Wesen den Weg leuchtet oder bereits Ausdruck seines Zorns ist.

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