Heft 851, April 2020

Zerfall und Überschuss

Thüringen als politisches Formproblem von Moritz Rudolph

Thüringen als politisches Formproblem

Theorie von Thüringen

Maßlosigkeit der Mitte: Wenn die Deutschen, wie Thomas Mann von Dostojewski gelernt hatte, ewige Protestanten sind, die sich immer wieder gegen die Welteinheit stellen (was er 1918 gut- und 1945 schlechtgeheißen hatte),1 dann bilden die urprotestantischen Thüringer das Zentrum dieses Unruheherds. Dadurch hat sich Thüringen in der deutschen Geschichte zuverlässig als Ort der unzuverlässigen Zukunft gezeigt, an dem politische Formkrisen, die bald darauf das gesamte Land erfassten, zuerst auftraten. Die Mittellage ist hierfür entscheidend. Denn anders als man zunächst annehmen könnte, begünstigt diese nicht etwa eine politische Maß- und Mitte-Harmonie (die obendrein der Form der sanft geschwungenen Hügellandschaft entspräche),2 sondern Zentrifugalkräfte. Der vermeintliche Widerspruch von Mittellage und Abfall vom Glaubenszentrum enthält in Wirklichkeit bereits die Erklärung: Thüringen ist ein Transitland, das an den Schnittpunkten der innerdeutschen Austauschwege entstanden ist und in dem sich alle Macht- und Ideenstränge bündeln. Weil beinahe jeder durch Thüringen hindurchmuss, der irgendwohin will, wird allerhand mitgebracht, vieles bleibt hängen, und Thüringen wird zum Sammelort der Neuerungen, Absichten, Sorgen, Deformationen und überschießenden Ideen, die aus allen Landesteilen zu ihm kommen.

Der Überschuss in Kunst und Philosophie begünstigt den politischen Zerfall: Es kann sich diesem Dauersturm der Einflüsse auch nicht entziehen. Die abgeschiedene Ruhe der Randlage, die die Dinge Dinge sein lassen kann, ist ihm nicht vergönnt, weshalb die permanente Weltbildstörung zum Kern des Thüringertums gehört. Weil der Thüringer all diese Gedankenstränge, die ihm andauernd ins Land getragen werden und ihm schlaflose Nächte bereiten, irgendwann auch zur großen Synthese bündeln will, gibt er sich nicht mit der eleganten Oberflächlichkeit einer kurzen Begegnung zufrieden und stößt zu dem vor, was darunterliegt. Der Thüringer entwickelt dadurch ein Interesse an der Grübelei, an der Wesensschau und wird zum Metaphysiker. Begünstigt wird das von seinen vielen Hügeln und Wäldern, die ihm als Mythenspeicher und Garanten der Einsamkeit dienen. In sie zieht er sich zurück, um sich selbst zu befragen, sie versetzen ihn in die richtige Stimmung dazu. Das bewaldete Mittelgebirge lockt und bleibt rätselhaft, es öffnet und schließt zugleich, anders als das flache Land und das kahle Hochgebirge, wo sich nichts verstecken kann, dem man nachforschen könnte. Die Metaphysik ist eine Angelegenheit des Waldes.

Doch hier gibt es ein Problem: Was man in stiller Waldeseinsamkeit kontemplativ vielleicht erfasst, lässt sich nicht kommunizieren oder gar praktisch umsetzen, ohne die gesamte Ordnung umzustürzen. Als naheliegende Arten der Thüringer Praxis bleiben damit Kunst, Philosophie und Religion. Wer weitergehen und noch weltlicher werden will, handelt sich schnell Probleme ein, um die er sich eigentlich gar nicht kümmern wollte. Thüringens Gang aufs Ganze produziert eine Unzufriedenheit mit dem politischen Normalfall, der eben nicht nach letzten Geheimnissen sucht, sondern sich um deren Wahrung bemüht. Eine solche Politik, die ums Absolute allenfalls herumschleicht und sich ansonsten zur Kunst des Machbaren erklärt, interessiert die Thüringer daher nicht, sie lassen als Kunst nur gelten, was der Sache auf den Grund geht, während sie sich aus dem Machbaren nicht viel machen.

Da sich aber die Politik durchaus für Thüringen interessiert und ständig dort aufkreuzt, lässt es sich irgendwann widerwillig darauf ein und sucht schmollend nach etwas, das das Feld, auf das es keine Lust hat, wenigstens beschädigen kann. Denn auch die Thüringerin muss irgendwann entnervt einsehen, dass ihr Land kein harmonisches Gefüge oder wenigstens ein Weimarer Kulturstaat ist, sondern ein Gebilde, in dem Macht, Interesse, Taktik und Legitimität zählen – Dinge also, für die sie sich nicht interessiert, die ihr aber bei ihrem Privatgang aufs Absolute im Weg stehen. So schwankt sie zwischen zwei Extremformen der Apolitik: zwischen Kontemplation und ruckartiger Opposition, die fast immer unüberlegt ausfällt und einer Authentizitätslaune folgt.

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