Zerfall und Überschuss
Thüringen als politisches Formproblem von Moritz RudolphThüringen als politisches Formproblem
Theorie von Thüringen
Maßlosigkeit der Mitte: Wenn die Deutschen, wie Thomas Mann von Dostojewski gelernt hatte, ewige Protestanten sind, die sich immer wieder gegen die Welteinheit stellen (was er 1918 gut- und 1945 schlechtgeheißen hatte),1 dann bilden die urprotestantischen Thüringer das Zentrum dieses Unruheherds. Dadurch hat sich Thüringen in der deutschen Geschichte zuverlässig als Ort der unzuverlässigen Zukunft gezeigt, an dem politische Formkrisen, die bald darauf das gesamte Land erfassten, zuerst auftraten. Die Mittellage ist hierfür entscheidend. Denn anders als man zunächst annehmen könnte, begünstigt diese nicht etwa eine politische Maß- und Mitte-Harmonie (die obendrein der Form der sanft geschwungenen Hügellandschaft entspräche),2 sondern Zentrifugalkräfte. Der vermeintliche Widerspruch von Mittellage und Abfall vom Glaubenszentrum enthält in Wirklichkeit bereits die Erklärung: Thüringen ist ein Transitland, das an den Schnittpunkten der innerdeutschen Austauschwege entstanden ist und in dem sich alle Macht- und Ideenstränge bündeln. Weil beinahe jeder durch Thüringen hindurchmuss, der irgendwohin will, wird allerhand mitgebracht, vieles bleibt hängen, und Thüringen wird zum Sammelort der Neuerungen, Absichten, Sorgen, Deformationen und überschießenden Ideen, die aus allen Landesteilen zu ihm kommen.
Der Überschuss in Kunst und Philosophie begünstigt den politischen Zerfall: Es kann sich diesem Dauersturm der Einflüsse auch nicht entziehen. Die abgeschiedene Ruhe der Randlage, die die Dinge Dinge sein lassen kann, ist ihm nicht vergönnt, weshalb die permanente Weltbildstörung zum Kern des Thüringertums gehört. Weil der Thüringer all diese Gedankenstränge, die ihm andauernd ins Land getragen werden und ihm schlaflose Nächte bereiten, irgendwann auch zur großen Synthese bündeln will, gibt er sich nicht mit der eleganten Oberflächlichkeit einer kurzen Begegnung zufrieden und stößt zu dem vor, was darunterliegt. Der Thüringer entwickelt dadurch ein Interesse an der Grübelei, an der Wesensschau und wird zum Metaphysiker. Begünstigt wird das von seinen vielen Hügeln und Wäldern, die ihm als Mythenspeicher und Garanten der Einsamkeit dienen. In sie zieht er sich zurück, um sich selbst zu befragen, sie versetzen ihn in die richtige Stimmung dazu. Das bewaldete Mittelgebirge lockt und bleibt rätselhaft, es öffnet und schließt zugleich, anders als das flache Land und das kahle Hochgebirge, wo sich nichts verstecken kann, dem man nachforschen könnte. Die Metaphysik ist eine Angelegenheit des Waldes.
Doch hier gibt es ein Problem: Was man in stiller Waldeseinsamkeit kontemplativ vielleicht erfasst, lässt sich nicht kommunizieren oder gar praktisch umsetzen, ohne die gesamte Ordnung umzustürzen. Als naheliegende Arten der Thüringer Praxis bleiben damit Kunst, Philosophie und Religion. Wer weitergehen und noch weltlicher werden will, handelt sich schnell Probleme ein, um die er sich eigentlich gar nicht kümmern wollte. Thüringens Gang aufs Ganze produziert eine Unzufriedenheit mit dem politischen Normalfall, der eben nicht nach letzten Geheimnissen sucht, sondern sich um deren Wahrung bemüht. Eine solche Politik, die ums Absolute allenfalls herumschleicht und sich ansonsten zur Kunst des Machbaren erklärt, interessiert die Thüringer daher nicht, sie lassen als Kunst nur gelten, was der Sache auf den Grund geht, während sie sich aus dem Machbaren nicht viel machen.
Da sich aber die Politik durchaus für Thüringen interessiert und ständig dort aufkreuzt, lässt es sich irgendwann widerwillig darauf ein und sucht schmollend nach etwas, das das Feld, auf das es keine Lust hat, wenigstens beschädigen kann. Denn auch die Thüringerin muss irgendwann entnervt einsehen, dass ihr Land kein harmonisches Gefüge oder wenigstens ein Weimarer Kulturstaat ist, sondern ein Gebilde, in dem Macht, Interesse, Taktik und Legitimität zählen – Dinge also, für die sie sich nicht interessiert, die ihr aber bei ihrem Privatgang aufs Absolute im Weg stehen. So schwankt sie zwischen zwei Extremformen der Apolitik: zwischen Kontemplation und ruckartiger Opposition, die fast immer unüberlegt ausfällt und einer Authentizitätslaune folgt.
Thüringen ist also nicht einfach unpolitisch, sondern mit seinem Degout an Interesse, Öffentlichkeit, Kompromiss und Kommunikation nur nicht gemacht für herkömmliche Politik im Modus der Deliberation oder des Sachzwangs. Weil es aufs Ganze geht, das das Absolute ist, sprengt es alle politischen Formen, die man ihm gibt – selbst wenn an deren Wurzel keine Deliberation, sondern eine Dezision oder eine Einfügung in den verwalteten Weltlauf steht.
Wenn Christoph Möllers 2017 den Gegenwartsdeutschen ein bürgerliches Unbehagen an der Politik attestierte, weil sie am liebsten ihren Geschäften nachgehen,3 dann setzen die Thüringer dem noch eins drauf, indem sie nicht einmal die verfolgen und sich stattdessen für das Absolute interessieren, das sie in ihren Wäldern vermuten. Zur Händlerin, zum Helden und zur vernünftigen Kommunikatorin gesellt sich damit ein vierter Polittypus, der des einsamen Waldgängers und Selbstbefragers, den wir bevorzugt in Thüringen antreffen. Der wiederum macht dort nicht selten eine Begegnung mit dem Teufel (etwa Klingsor, Luther und Goethe, der nur hier seinen Faust schreiben konnte), was ihn vollends aus der Fassung bringt.
Doch die politische Unruhe schlägt hier schon die nächste dialektische Volte: Gerade weil Thüringen politisch zwischen Rückzug und Ordnungssprengung schwankt, lässt es sich von Zeit zu Zeit auf die gemütlichsten Verteidigerinnen des Status quo ein – auch weil es eine historische Angst vor der eigenen Courage entwickelt hat und sich in manchen Zeiten an das Schreckliche der Unruhe erinnert. In seiner Unruhe beim Gedanken an die Unruhe flüchtet es sich dann ins Versprechen, alles sei okay – daher der harmlos-heitere Regionalpatriotismus, der sich um Wurst, Wald und Weimar schart. Und daher auch die jahrelange CDU-Herrschaft.
Land ohne Eigenschaften: Thüringens Mittellage hat sich mit Fertigstellung der neuen ICE-Strecke von Berlin nach München noch einmal gefestigt. Zuvor schon hatte die Neustrecke zwischen Leipzig und Erfurt den Ost-West-Kontakt von Dresden nach Frankfurt am Main intensiviert. Der »Systemhalt« Erfurt liegt damit am Schnittpunkt von politischer (Berlin), finanzieller (Frankfurt), musealer (Dresden) und wirtschaftlich-technologischer (München) Hauptstadt. Er begrüßt täglich etwa achtzig ICEs, und beinahe jeder, der von einer wichtigen Großstadt in die andere will, muss jetzt durch Thüringen hindurch. Aber niemand kennt es so recht.
Die Aufmerksamen unter den ICE-Gästen kleben an den Fensterscheiben, sobald die Wartburg zu sehen ist, und dann noch einmal, um den Inselsberg zu bestaunen. In Gotha fragen sie, wo man hier eigentlich sei, um kurz darauf zu rätseln, ob »dieses Erfurt« wohl schon in Sachsen oder noch in einem anderen Bundesland liege. Wenig später sind sie in Leipzig und sehen sich in ihrer Sachsen-Hypothese bestätigt. Ihr Missverständnis über Thüringen wird nie aufgeklärt.
Unter den Google-Topresultaten zum Suchbegriff »Thüringen« liegt auf dem ersten Platz die Frage: »In welchem Bundesland liegt Thüringen?« Niemand kennt sich aus mit Thüringen, und das ging auch Adorno so, der bemerkte, dass »man in der Geographie jener Gegenden keineswegs Bescheid weiß«.4 Er stellte sie sich so vor: »Fulda: nun muß Erfurt folgen, das im Gewebe der Assoziationen zwischen dem Hessisch-Kasselschen und dem Thüringischen liegt; man wird dann Weimar erwarten, das zwar in der Phantasieregion Thüringen, aber längst nicht so durchaus in einem Lande lokalisiert wird, wo der Dialekt sächsisch ist, wie etwa Halle. Hält man sich in Erfurt und Halle auf, so kann es leicht geschehen, daß jene Differenzen schrumpfen, daß man die Menschen und die Art der Stadt überaus ähnlich findet. Erst wenn man auf der Karte die Figur hergestellt hat, die die Städte miteinander bilden, stellt sich das Bild des Ursprungs wieder her.«
Selbst Adorno zeigte sich von Thüringens Unordnung verwirrt. Aber die Aufdröselung der komplizierten Verhältnisse lohnt sich, denn sie ergibt ein Beispiel für seine Idee des »Nichtidentischen« und ihre Begleiterscheinungen: Als Land in der Mitte, ohne starren Selbstbezug, zeigt sich Thüringen offen für alles Übrige – aber nur, wenn dieses nicht als Heteronomie daherkommt. Und selbst an Autonomie ist es nicht sonderlich interessiert, weil es sich da nur selbst parieren müsste. Stattdessen verlässt es das gewöhnliche Feld der Politik in Richtung der Kunst und kommt nur zurück, um es gründlich umzuwälzen, wodurch es aber auch leicht in den Wahnsinn der Konturlosigkeit abgleiten kann, so dass sich Schöpfung und Raserei hier begegnen. Der Dialektiker Adorno hatte wohl beides im Sinn, als er an Thüringen dachte, und wenn das thüringische Nichtidentische die Möglichkeit der Öffnung und Verschiebung enthält, dann muss es im Schlepptau auch dessen Verunwirklichung haben, die sich in der politischen Formsprengung äußert, die ganz ohne Befreiung erfolgt. Gerade weil hier das Beste möglich ist, ist auch das Schlechteste nicht weit.
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