Eurofaschismus – Wer gegen ihn ist, könnte für ihn sein
von Moritz RudolphAn diesem EU-Wahlkampf fiel auf, wie viele abstrakte Unterstützer Europa hat: Fast alle großen Parteien, Redaktionen, Verwaltungen (»Berlin ist vereint, Europa soll es bleiben. Gib Europa deine Stimme!«) und Unternehmen (Bahn, VW, Spotify, Gesamtmetall und fritz-kola) riefen zur Wahl auf, um »den Rechten« (fritz-kola) das Wasser abzugraben. Ganz abgesehen davon, dass die wichtigste EU-Wahl wohl die deutsche Bundestagswahl ist (und vielleicht noch die französische Präsidentenkür), wo sich entscheidet, was der Rat entscheidet, also diesen demokratietheoretisch unschönen Fleck einmal beiseite gelassen und angenommen, es gäbe bei der EU-Parlamentswahl tatsächlich so viel zu bestimmen, wie alle behaupten, ist es doch seltsam, wie selbstverständlich eine Verwandtschaft von Europa und Liberalismus oder gar Emanzipation vorausgesetzt wird. Warum kann Europa denn nichts Rechtes sein, erst recht ein »starkes«, wie es Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in einem Sonderheft der Bahn beschworen hat, das allen ICE-Gästen in der Wahlwoche aufgedrängt wurde (#bahnfuereuropa)?
Ein geschichtsphilosophischer Verdacht nährt diesen Zweifel, denn wenn wir uns die bisherige Entwicklung der Menschheit zur global geeinten Gattung anschauen, so fällt auf, dass sie nicht linear verläuft, sondern sich in Schüben und Rückschlägen vollzieht. Der Rhythmus der Globalisierung oszilliert zwischen Expansion und Kontraktion. Die Ausweitung der Handelsbeziehungen seit dem Spätmittelalter, beschleunigt durch die iberische Expansion seit dem 15. Jahrhundert, öffnete die kleinräumliche politische Organisation für größere Zusammenschlüsse, so dass die Einheiten wuchsen: Aus Stadtstaaten, kleineren Fürstentümern und losen Herrschaftsverbänden wurden durchorganisierte Königreiche, Nationalstaaten und schließlich Blöcke. Doch die Öffnung zum Globus wurde immer wieder unterbrochen durch abschottende Rückzüge ins Kleinräumliche, das gerade erst zu Öffnungszwecken geschaffen wurde, jetzt aber in die andere Richtung ausschlug.
Dass etwa die deutsche Nation zunächst die Kleinstaaten überwand, anschließend jedoch in Nationalismus umschlug, wird von liberalen Geschichtsoptimisten gern als unvernünftige Übertreibung gedeutet, die aus dem vernünftigen Gesamtbild herausgenommen werden muss. Aber ist es nicht viel vernünftiger, die gesamte gewordene Geschichte ernst zu nehmen und bei der Bestimmung ihrer Logik auch ihre vermeintlichen Unvernünfteleien zu berücksichtigen? Bornierte Kleinstaaterei des 17. und 18. Jahrhunderts, Nationalismus des 19. und Faschismus des 20. Jahrhunderts wären dann nicht mehr unerklärliche Störfälle auf dem Weg zur Universalbruderschaft, die nur noch soziologisch und nicht mehr geschichtsphilosophisch eingefangen werden können, sondern Ereignisse, die sich im Zentrum des geschichtlichen Unsinns eingenistet haben. Wir können ihn dann noch immer deuten, müssen aber dialektisch werden. Lesen wir die Geschichte so, dann macht sie zwar weniger Mut, aber auch weniger blind.
Und wir können dabei noch etwas beobachten: Der Rückzugsraum wuchs von Mal zu Mal, die Kontraktion machte nicht den gesamten geschichtlichen Prozess rückgängig, um in die winzige Stammesgemeinschaft zurückzufallen, sondern sie rastete irgendwo ein. (Das ist die Wahrheit an der falschen Vorstellung der Zivilisationsoptimisten: Nicht moralisch rasten wir ein, sondern in der Organisationsgröße – bei gleichzeitig wachsenden Verheerungen, weil mit den Produktions- auch die Destruktionskräfte anschwellen, weshalb wir mit dem Organisationsfortschritt realmoralisch sogar immer wieder zurückfallen.)
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