Schöne Seelen
von Moritz RudolphGemütsadel
Jedes Zeitalter hat seinen Adel, jenen Kreis von Avantgardesubjekten, die den Übrigen ein wenig wunderlich vorkommen, ihnen jedoch insgeheim Respekt abtrotzen (der sich auch als Ablehnung äußern kann), weil sie spüren, dass hier eine höhere Lebensform entwickelt wird, die ihnen alsbald recht vernünftig vorkommen wird. Dazu gehörten etwa im Mittelalter die Frommen, die sich nicht auf die weltliche Bahn locken ließen. In der Neuzeit die Eroberer, Erfinder und Überwältiger, die neue Welten schufen. Später die Strategen, Industriekapitäne und Generaldirektoren, die Beweger unendlicher Massen, und schließlich die Durcheinanderwirbler dieser Massen, die outside the box dachten und sich auf Rulebreaking spezialisiert hatten, um sich und die Welt einer permanenten Revolution durch Optimierung zu unterziehen. Sie alle wirkten als Offensivkräfte oder starke Verteidigertypen, waren richtige Viecher, die Durchbrüche erzwangen oder verhinderten und es auf den Gebieten der Vernunft, der Kraft und des Willens zu wahrer Meisterschaft brachten.
Heute jedoch deutet sich der Übergang zu einem neuen Typus Mensch an, der die bislang gewohnte Zusammensetzung des Adels kräftig durchschüttelt, alte Vorzüge entwertet und ehedem Wertloses in ein Asset verwandelt: Die Rede ist von eher sanften Naturen, freundlichen Menschen, angenehmen Zeitgenossen, die noch am ehesten an den monastischen Urtypus des Subjekts anschließen, ohne jedoch dessen Glaubenskern zu übernehmen, der im Verborgenen derart glühte, dass man sich leicht an ihm verbrennen konnte. Die heutige Avantgarde hat dagegen nichts Fanatisches, nichts Festes, und die einzige Maxime, auf die sie sich verständigen kann, ist, dass es sinnvoll wäre, ein angenehmer Mensch zu sein. Alles Weitere wird sich schon finden.
Dieser neue Mensch ist noch im Entstehen begriffen. Er taucht hier und da auf, gibt sich flüchtig zu erkennen, etwa in Gestalt des Kindness Contents, der auf Youtube millardenfach geklickt wird. Oder der Kindness Economy, die die finstere Fratze des Kapitals ein wenig aufhübscht, indem sie nette Sachen macht, wie nachhaltig und fair zu produzieren. Oder Privat- in Stiftungsvermögen zu überführen, das für Maßnahmen gegen den Klimawandel verwendet wird, so wie es die Outdoor-Bekleidungsmarke Patagonia getan hat.1
Vor allem aber zeigt es sich im Verhalten junger Menschen, die in der Regel viel freundlicher sind als ihre Eltern, und erst recht als ihre Großeltern (um von den Urgroßeltern nicht zu reden und von den Ururgroßeltern zu schweigen). Sokrates’ Klage über die Verkommenheit der Jugend, sehr beliebt bei Kulturkritikern seit 2500 Jahren, die ebenso gern mit dem Hinweis gekontert wird, Rebellion sei das Vorrecht der Jugend, wirkt heutzutage ziemlich komisch: Was gibt es denn an den Jungen auszusetzen? Ihre Manieren sind in der Regel tadellos, ihr Umgangston ist höflich bis zur Selbstverleugnung, in Diskussionen treten sie zurückhaltend auf und sind peinlich darauf bedacht, alle einzubeziehen und niemanden zu verletzen, während Ältere oft wie Bulldozer wirken, vor denen man sich in Acht nehmen muss.
Der sechste Kondratieff
Was bislang auf einige Randfiguren beschränkt blieb, die von den Grobianen herumgeschubst wurden, wird schon bald ins Anforderungsprofil für Gesellschaftsmitglieder aufgenommen. Niemand wird künftig darauf verzichten können, ein angenehmer Mensch zu sein. Der Grund hierfür ist zunächst ziemlich profan: Es rechnet sich. Wie so oft agieren die Sittenträger als Agenten einer höheren, oder im Fall der Neuzeit, tieferen Macht, die ihnen unwillentlich aufträgt, was sie zu tun haben. Nun geben sich die neuen Menschen wohl kaum nur deshalb so höflich, weil sie sich fette Profite erhoffen. Sie sind es tatsächlich. Aber dass es immer mehr von ihnen gibt, dass man ihnen zuhört, sie ernst nimmt, schätzt und fördert, dass Bücher über sie geschrieben werden, in denen sie nicht als tragische Figuren, schwächliche Sonderlinge und romantische letzte Ritter auftreten, die unser Mitgefühl verdienen, hat etwas mit dem Kapital zu tun, das auf den Geschmack der Freundlichkeit gekommen ist.
Bekanntlich bewegt es sich nicht gleichförmig, sondern in langen Wellen der Konjunkturentwicklung, die man nach ihrem Entdecker Nikolai Kondratieff benannt hat.2 Dieser hatte in den 1920er Jahren beobachtet, dass alle paar Jahrzehnte eine epochemachende Erfindung das Wirtschaftsgeschehen durcheinanderbringt, neu sortiert und die Wachstumsdynamik bestimmt – bis die Profitmöglichkeiten abermals erschöpft sind, ein Abschwung einsetzt und eine neue »Basisinnovation« hermuss. Bislang gab es fünf davon: die mechanisierte Textilindustrie, die dampfgetriebene Eisenbahn, Elektrizität und Chemie, Erdöl und Automobilindustrie sowie die Informationstechnologie. Nun befinden wir uns am Ende des fünften Zyklus, und es mehren sich die Anzeichen, dass das Wachstum an eine Grenze stößt, weil der Computer bereits alle Bereiche des Lebens und Arbeitens erfasst hat. Wo will er denn noch hin? Es muss nun, um Produktivitätsfortschritte zu erzielen, noch etwas anderes hinzukommen, das eine Lücke schließt, ein Hemmnis beseitigt, das bisher bestand.
Hierfür gibt es verschiedene Kandidaten, etwa Bio- und Nanotechnologie, Gesundheitswirtschaft, Künstliche Intelligenz, das Internet der Dinge sowie Weltraumforschung, Solarenergie, Umwelttechnologie und Pflege. Am wahrscheinlichsten ist jedoch eine Verbindung all dieser Bereiche zu einem planetaren Gefüge. Dies wäre zugleich ein bedeutender Fortschritt in der Geschichte der Automatisierung von Arbeit: eine Verschaltung aller natürlichen und künstlichen Dinge zu einem gewaltigen, selbststeuernden Produktionsprozess, der den Komfort, die Lebensdauer und -qualität erhöht und nachhaltig wirtschaftet. Ökonomen, Ökologen, Sozial- und Computerwissenschaftler sprechen daher vom heraufdämmernden Zeitalter der »Kybernetik«, in dem nicht eruptive Entscheidungen, Schöpfungen aus dem Nichts oder lineare Vorgänge unsere Welt bestimmen, sondern geschlossene Kreisläufe, die man am besten in Ruhe lässt.3
Anders als die Theoretiker des Rhizoms behaupten, führt die Zentrumslosigkeit der neuen Kreisläufe aber nicht zu Unantastbarkeit, die sich aus Milliarden Quellen speist, sondern zu hoher Anfälligkeit für Störungen, die an Milliarden Punkten auftreten können. Eine einzige schlechtaufgestellte Bank kann das Finanzsystem ins Wanken bringen, ein kleiner Schnitt im Stromkabel verursacht Blackouts in ganzen Regionen, und ein geschickt platzierter Computervirus legt Krankenhäuser und Städte lahm, ein Programmierfehler verursacht unzählige Unfälle von Drohnen und selbstfahrenden Autos. Die Reibungslosigkeit des Systems ist, zumindest in der Anfangsphase, in der man noch den Stecker ziehen kann, eher Ideal als Fakt. Nur wer es garantieren kann, nimmt an der Wertschöpfung teil.
Dafür braucht man nicht nur tüchtige Ingenieure, davon reichen ein paar Tausend, sondern vor allem Menschen, die sich geschmeidig durch den Alltag bewegen, die nicht groß auffallen und immer freundlich sind, Konflikte dämpfen, da diese sich sofort fatal auswirken. Vor allem müssen es Menschen sein, die ihre Überflüssigkeit, zumindest in den Begriffen überholter Produktionsregime, akzeptieren. Ihre Muskelkraft ist nicht mehr gefragt. Ihre Verwaltungs- und Organisationskompetenz auch nicht. Selbst als Dienstleister tritt der Mensch zurück ins zweite Glied. Er wird sich auf drei Bereiche beschränken müssen: Einige wenige Ingenieure sind die Edelassistenten der Maschinen. Geschützt werden sie von ein paar Leibwächtern und Ärzten, die den störungsfreien Betrieb organisieren.
Und dann gibt es einen riesigen Pool von Menschen, die entweder nichts zu tun haben oder eine höhere Form des Nichtstuns pflegen, indem sie sich als Atmosphärentechniker betätigen. Sie wirken auf die Stimmungen, erzeugen schöne Gefühle, auch tiefe, am Sinn kratzende. Sie versetzen uns in einen Zustand der Dauermeditation, der permanenten Schwingung, die zu einer tiefen Zufriedenheit mit sich, den Maschinen und dem Kosmos führt. Alles, damit man die eigene Überflüssigkeit aushält. Hierbei können ostasiatische Weisheitslehren helfen, aber auch deutsche Mystik ist gefragt sowie indigenes Schamanentum.4
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