Heft 886, März 2023

Der große Freund

von Moritz Rudolph

Philosophie ist, nach einer berühmten Formulierung Hegels, »ihre Zeit in Gedanken erfaßt«. Die Beschäftigung mit Alltag und News ist daher keine bloße Nebentätigkeit. Auch kein pädagogischer Zusatz, mit dem der Philosoph den Leuten mitteilt, was er im stillen Kämmerlein herausgefunden hat. Sie ist das Material, von dem er lebt, der Unruhepol im eigenen System, der Geist, der alles in Bewegung hält und zu Veränderungen der Theorie führt. Krisenzeiten, in denen die Ordnung ins Rutschen gerät, sind daher Denkzeiten. Das Material verformt sich, und die alten Begriffe kommen auf den Prüfstand. Man fragt, ob sie noch etwas taugen oder entsorgt oder zumindest umgearbeitet werden müssen. Dies können wir auch am Ukrainekrieg beobachten. Schon kurz nach Ausbruch war sich das Gros der westeuropäischen, vor allem deutschen Kommentatoren und Politikerinnen einig, dass man bislang zu naiv gewesen sei. Das Vertrauen in Verträge und Handel oder gar Pazifismus wurde einer alten Wesensart zugeschlagen, für die man sich zu schämen begann und von der man sich schleunigst verabschieden wollte. Man interessierte sich fortan für Waffen, Geopolitik und für Feinde und verschob damit den herrschenden Begriff des Politischen.

Feinde, Rechthaber und Ordnungsstifter

Konrad Paul Liessmann, Philosoph aus Wien, schrieb im August 2022, Putin lehre uns, dass Politik ohne Feindschaft nicht zu haben sei. Unter Berufung auf Carl Schmitt führte er aus, dass erst der Feind einen Gegenstand politisch macht, der bis dahin eine Angelegenheit der Verwaltung war: Der Klimaleugner verwandelt Umweltmaßnahmen in Klimapolitik, der Widerstand der Querdenkerin erzwingt Corona-Politik, und Putins Hass auf das Selbstbestimmungsrecht von Individuen, die nicht Putin, und Staaten, die nicht Russland heißen, macht den Liberalismus des Westens zu einem politischen Projekt. Man weiß nun, wogegen man kämpft, und damit über Umwege auch, wofür. 

Martin Rhonheimer, Philosoph aus Zürich, widerspricht: Nicht Feindschaft sei die Essenz des Politischen, sondern die »Herrschaft des Rechts«. Wo Regeln eingehalten werden und sich die Gesellschaft in einem Rhythmus bewegt, für den sie sich selbst entschieden hat, findet Politik statt. Wo sie gebrochen werden, entsteht ein Feind, der sich als disharmonischer Störenfried nicht im Zentrum, sondern an den Rändern des Politischen befindet. Unter Berufung auf Hobbes und Locke scheint es Rhonheimer vor allem auf ein Recht anzukommen, das allem anderen vorausgeht: das Recht auf Selbsterhaltung, ausgedrückt im Privateigentum, aus dem letztlich das Individuum und der freie Westen hervorgehen.

Einig sind sich Liessmann und Rhonheimer in ihrer Ablehnung des Habermas’schen Deliberationsideals. Sie sehen darin den Geist einer alten Epoche, die am 24. Februar 2022 endete. Dass Menschen in freier Übereinkunft über ihre Angelegenheiten beraten, nur dem »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« verpflichtet, dass also der Dialog dominiert, finden beide hoffnungslos naiv; Rhonheimer spricht sogar von »Realitätsverweigerung«. Man hört eine gewisse Lust an der neuen Situation heraus, eine Freude darüber, endlich mit alten Gewissheiten aufräumen und den verträumten Idealismus der Berliner Republik verabschieden zu können.

Aber warum diese Ausschließlichkeit? Warum die Begrenzung des Politischen auf Feindschaft oder Recht? Gewiss sind beides politische Momente – aber die einzigen? Wenn wir Politik etwas umfassender als Akt der Festlegung, Verschiebung und Außerkraftsetzung einer Ordnung begreifen, dann fällt noch viel mehr darunter: Kriegserklärungen und Friedensschlüsse, Revolutionen, Verfassungsgebung, Wahlen, Gesetzgebung, Auslegung durch Gerichte, Umsetzung durch Verwaltungen, Diskussionen im Privaten und in der Öffentlichkeit, in denen kollektivem Handeln eine Richtung gegeben wird – Momente intensiver Feindschaft und Freundschaft.

Damit müssen wir Habermas nicht aus dem Kreis der politischen Denker verabschieden, nur weil er einem Verständigungsmodell das Wort redet. Seine Zeit wird wiederkommen. Momentan mögen Machiavellisten den Ton angeben, doch selbst Machiavelli, der kühle Analytiker der Macht, hat neben Il principe ein zweites Buch geschrieben, in dem er sich als verständigungsorientierter Republikaner outete (Discorsi). Erst damit hatte er ein vollständiges Gesicht der Politik gezeichnet.

So ist es übrigens auch bei Habermas, der keineswegs jener naive Träumer ist, als der er jetzt hingestellt wird. Seine Europa-Schriften lassen ein Gespür für Machtfragen erkennen; seine tagespolitischen Interventionen, etwa zu den Kriegen auf dem Balkan oder im Irak, zeugen von geopolitischer Klarsicht. Und schon die frühen Werke handeln von einem übermächtigen »System«, das die »Lebenswelt« bedroht und zurückgedrängt werden muss. In Habermas’ Theoriewelt wimmelt es von Herrschaften, nur will er nicht jede als Naturgewalt hinnehmen.

Politik der Freundschaft

Vielleicht können wir den beiden dissoziativen Vorschlägen Liessmanns und Rhonheimers einen dritten hinzufügen, der sich in den Bahnen assoziativer Politik bewegt und auf Freundschaft abzielt. Dazu gehören Verständigungsideale nach Habermas und Arendt, aber auch weitergehende, kommunistische Ansätze, die jenes Recht, das Rhonheimer »herrschen« lassen will, auf seine Ein- und Ausschlussfunktion prüfen. Nach Eva von Redecker zum Beispiel liegt im Eigentum der Grund für die Ausbeutung von Mensch und Natur. Das Eigentum erlaubt den Missbrauch, das Leersaugen und achtlose Wegwerfen, erzwingt es sogar, da erst mit der Zerstörung der Beweis erbracht wurde, dass einem eine Sache wirklich gehört hat. Wer dagegen zu einem Leben ohne Herrschaft, Feindschaft und Zerstörung gelangen will, darf vor dem Recht nicht zurückschrecken und muss es an den Stellen außer Kraft setzen, wo es der Aufrechterhaltung der Nichterhaltung des Lebens dient. Jacques Rancière dreht Schmitts Figur des Politischen sogar um: Für ihn ist jeder Einschluss eines zuvor ausgeschlossenen Teils der Menschheit ein politischer Akt. Jedes neue Mitglied trägt zum Wachstum der Polis bei, vermehrt die Freundschaft und erhöht die Qualität des Politischen. Feindschaft ist hingegen unpolitisch, zumindest wenn sie sich darin erschöpft und lediglich einer »polizeilichen« Logik folgt, die die triste Normalität von Hierarchie und Opfer verteidigt. Solchen Scheinereignissen darf man nicht auf den Leim gehen. Es muss schon noch etwas hinzukommen, sie brauchen ein außergewöhnliches Ziel, etwa die Reduktion der Feindschaft, um wirklich politische Qualität anzunehmen. Auch die Herrschaft des Rechts reicht hierzu nicht aus. Sie ist lediglich eine Folge der Politik, die zuvor an anderer Stelle stattgefunden hat und sich nun ein wenig Ruhe gönnt. Sie delegiert ihre ordnungsstiftenden Aufgaben und macht Ferien, um sich auf den nächsten großen Sprung vorzubereiten, der zum Einschluss weiterer Freunde führt.

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