Heft 893, Oktober 2023

Tocqueville global

Das Phantom des schrecklichen Westens von Moritz Rudolph

Nieder mit dem Westen!

Wer den Blick über den Globus schweifen lässt, sieht lauter Revolten gegen den Westen: Putins Angriff auf die Ukraine ist zugleich einer auf die Prinzipien von Staatssouveränität, Kooperation, Handel, NATO-Präsenz und die dekadente Verweichlichung der Sitten, deren Ausbreitung er unterbinden will. Xi Jinping macht ebenfalls Anstalten, sich vom amerikanisch-europäischen Joch zu befreien, das ihn an der taiwanesischen Stelle besonders drückt. Auch er lässt keine Gelegenheit aus, auf die imperiale Anmaßung, die Ignoranz und Heuchelei des Westens hinzuweisen, der in seinen Augen Menschenrechts-Camouflage betreibt, um sein jahrhundertealtes Programm der Welteroberung fortsetzen zu können.

Krawallige Unterstützung bekommt er von seinem vorlauten kleinen Bruder aus Pjöngjang, der regelmäßig damit droht, Atomraketen nach Kalifornien zu schießen. Am anderen Ende Eurasiens sinnen Dschihadisten in Ägypten, Syrien, Irak und Europa auf Rache für die politische und kulturelle Vorherrschaft des Westens, der die Grenzen vor hundert Jahren so gezogen hat, dass sie nun leider Kriege führen müssen. Und das Mullah-Regime im Iran will Israel am liebsten ins Meer und die Amerikaner über den Ozean jagen, um ein bisschen mehr Beinfreiheit im Nahen und Mittleren Osten zu bekommen. Stiller, aber in der Sache nicht minder entschlossen arbeiten Indien, Indonesien, Saudi-Arabien, Pakistan, Brasilien und viele andere an der Zurückdrängung des westlichen Einflusses und am Sturz der Weltordnung, die ihnen immer weniger in den Kram passt.

All dies ist mehr als eine Ansammlung isolierter außenpolitischer Ereignisse. Es ist ein Ereignis der Weltinnenpolitik, ein Produkt der Globalisierung, deren Hauptgestalter bislang der Westen war. Nun begehren die Produkte gegen ihren Produzenten auf und schmieden eine stille Allianz, die nicht von einem gemeinsamen positiven Ziel über die Ausgestaltung der neuen Weltordnung getragen ist, sondern von einem negativen, das lautet: Nieder mit dem Westen!

Allerdings passiert das längst. Der Westen befindet sich auf dem absteigenden Ast, sein Anteil an der Weltproduktion schrumpft, sein Einfluss in internationalen Gremien geht zurück, seine Kriege gewinnt er nicht mehr, weshalb er sie gar nicht erst führt, und sein Auftreten auf internationalem Parkett ist so zurückhaltend wie noch nie. Auch Kolonien hat er keine mehr, und von einem CIA-Putsch hat man schon lange nichts mehr gehört. Kurzum: Die revolutionäre Stimmung trifft auf einen zahmen Westen, dem man kaum noch etwas vorwerfen kann. Doch vielleicht ist gerade dies der Grund, dass sich die Vorwürfe häufen.

Tocqueville und die Revolution

Dahinter steckt ein Vorgang, den Alexis de Tocqueville an der Französischen Revolution beobachtet hat: Diese brach aus, als das Ancien Régime wirtschaftlich gut dastand, relativ vernünftig geworden war, nachdem Ludwig XVI. als Reformkönig in Erscheinung getreten war, so dass man ihm eigentlich kaum noch etwas vorwerfen konnte – zumindest weniger als den absolutistischen Herrschern vor ihm, allesamt tatsächlich Fieslinge und Raufbolde, mit denen der aktuelle König kaum mehr als die Blutlinie gemeinsam hatte.

Nun aber, da die Gründe für Kritik zu schwinden begannen, wurde diese umso lauter vorgetragen. Die Angleichung der Lebensverhältnisse im 18. Jahrhundert hatte ein bürgerliches Selbstbewusstsein genährt, das den Blick auf die verbliebenen Mini-Ungerechtigkeiten richtete. Man hielt sie kaum noch aus, während man die große Ungerechtigkeit zuvor gleichmütig ertragen hatte; man konnte ja sowieso nichts ändern. Jetzt aber witterten die Aufsteiger ihre Chance, ihr Anspruch auf Gleichheit wurde unterstützt von der Möglichkeit; die Schwäche des Ancien Régime weckte Begehrlichkeiten, auch endlich einmal dranzukommen, und dass es altersmilde geworden war, machte die Unzufriedenen rasend, da sie mit Güte nicht umgehen konnten; sie brauchten einen Feind, den sie hassen konnten, um ihn zu besiegen. Tocqueville schreibt: »Der Haß der Menschen gegen das Vorrecht wächst in dem Grade, wie die Vorrechte seltener und kleiner werden, so daß es ist, als loderten die demokratischen Leidenschaften gerade dann am stärksten auf, wenn sie am wenigsten Nahrung finden.«

Fraglos gab es noch immer Ungerechtigkeiten, doch sie betrafen nicht die Macht im Staat, die der Adel längst verloren hatte, sondern steuerliche Privilegien, mit denen er sich über Wasser hielt. Er war keine unterdrückerische Klasse mehr, sondern eine abschöpfende, kein Grund zum Fürchten, sondern ein Ärgernis, über das man mit etwas Nachsicht hätte hinwegsehen können. Zumal das Leben im Staat besser geworden war, der Umgangston freundlicher, die Freiheit größer: »Niemals war religiöse Toleranz, milde Regierung, Menschlichkeit und Wohlwollen eifriger gepredigt und, wie es schien, bereitwilliger zugestanden worden als im 18. Jahrhundert; selbst das Kriegsrecht, das gleichsam die letzte Zuflucht der rohen Gewalt ist, hatte sich eingeschränkt und gemildert. Aus dem Schoße so milder Sitten sollte gleichwohl die unmenschlichste Revolution hervorgehen.«

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