Heft 849, Februar 2020

Der Weltgeist als Lachs

Geschichtsphilosophische Implikationen des chinesischen Aufstiegs von Moritz Rudolph

Geschichtsphilosophische Implikationen des chinesischen Aufstiegs

»Mit dem Reiche China hat die Geschichte zu beginnen.«1 Dieser erste Satz der hegelschen Weltgeschichtsphilosophie könnte uns bei der Deutung unserer Gegenwart behilflich sein. Denn wenn wir Hegels Dialektik ernst nehmen in ihrem Anspruch, Anfangs- und Endpunkt in eins zu setzen, so dass sie am Ende wieder »in ihren Ursprung mündet«,2 dann müsste das auch geophilosophisch gelten. Sehen wir die Sache so, dann ergibt sich eine ganz andere Lesart auf die geschichtsphilosophische Wegmarke 1989, als es Fukuyamas Diktum vom Ende der Geschichte (1992) nahelegt. Mauerfall und Zusammenbruch des Ostblocks als dem einzigen Konkurrenten des spätliberalen Westens bedeuten dann nicht das Ende der Geschichte – das kann es hegelianisch gedacht, und das beansprucht Fukuyama schließlich für sich, gar nicht sein –, aber eine Etappe auf dem Weg dorthin sind sie schon. Geschichtsdialektik funktioniert ja nicht einfach so, dass einer stirbt und der andere übrig bleibt, der dann weitermachen kann wie bisher. Auch der Überlebende muss etwas vom Wesen des Besiegten in sich aufnehmen und damit selbst einen kleinen Tod sterben, der mit der Zeit immer größer wird, bis auch er verschwindet. Am Ende der Geschichte stehen sich These und Antithese einander anverwandelt gegenüber und wissen dabei kaum noch, wer man selbst und wer der Andere ist.

Die unbekümmerte Fortsetzung des einigermaßen liberalen und US-geführten Westprojekts (sicher: Fukuyama selbst gab sich im Gegensatz zu seinen frisch-fröhlichen Epigonen darüber noch nietzscheanisch bekümmert) ist geschichtsdialektisch unmöglich. Der Bruch von 1989 wird auch am System der geregelten Ausbeutungsverhältnisse mit abgemilderten (und ausgelagerten) Klassenkonflikten, die in der parlamentarischen Demokratie ausgetragen und durch den bürgerlichen Rechtsstaat abgesichert werden, nicht spurlos vorübergehen. Stattdessen müssen wir auf Formationen schauen, in denen etwas von beiden Kontrahenten des Kalten Kriegs überlebt hat. Denn wäre es nicht hegel-logischer, wenn die Synthese nach 1989 auf (spät)liberal-kapitalistische, rechtsstaatliche, dionysisch-individualistische Elemente ebenso zurückgriffe wie auf autoritäre Planbarkeit, Disziplin und Kontrolle (die dann auch noch per Einverständnis der Unterworfenen abgesegnet werden, wodurch der Gegensatz zwischen Selbst- und Fremdbefehl verschwindet)?

Ist Singapur, jene höchst erfolgreiche Melange aus autoritärem Staat und entfesselter Marktökonomie, nicht die viel umfassendere Synthese als US-Amerika, das lediglich übrig geblieben ist und dem neuen Zeitalter kaum etwas Neues anzubieten haben dürfte, weil es zu sehr vom vergangenen bestimmt wurde und zu viele spätliberale Hemmungen mit sich herumschleppt? Längst ist der Stadtvater Lee Kuan Yew zu einer Kultfigur für all jene geworden, die sich nach einer nichtwestlichen Alternativmoderne umschauen. Dieses Interesse beginnt zumeist technisch und endet stets im Politischen: Die rundum vernetzte Smart City weckt globale Neugier,3 der ökonomisch-wissenschaftliche Komplex wird auch von westlichen Ökonomen gern als Vorbild angepriesen,4 und der Star-Politanalyst Parag Khanna schwärmt von der »direkten Technokratie« seiner Wahlheimatstadt, der es vorbildhaft gelungen sei, die »Langeweile« zu institutionalisieren.5

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