Heft 898, März 2024

Die Balkonszene oder Einen wichtigen Film sehen

von Susanne Neuffer

To boldly go where no man has gone before

Man muss den Film gesehen haben, heißt es. Das ist kein Argument, wirkt aber doch im Verborgenen. Der Regisseur ist ein Kultfilmer. Er hat schon mehrere Kultfilme gemacht, die ich nicht gesehen habe. Die Zahl der verpassten Kultfilme in meinem Leben ist groß. Ich habe zum Beispiel Twin Peaks nicht gesehen, nein, wirklich nicht. Es nützt wohl nichts, dass ich Melancholia schon ziemlich oft gesehen habe. Aber Melancholia ist ein Film, der gute Laune macht, das braucht man einfach ab und zu.

Dass ich diesen zukünftigen Kultfilm jetzt sehen werde, liegt nicht an Besprechungen – die ich nie ganz lese –, auch nicht an einem Trailer, den ich mir fahrlässig angesehen hätte. Schuld sind die bunten Karten, die im Vorraum meines Kinos herumliegen, giftgrün, knallorange, senfgelb: Ein träges Zitronenlicht hängt über einer wüstenhaften, unzuverlässigen Stadtlandschaft. Überall spielt das Grün mit, ein Grün, wie es letzten Sommer die jungen Frauen in Litauen zu den Abiturfeiern trugen, lange grüne Kleider über hohen Schuhen in der Nachmittagssonne vor dem Kriegsmuseum in Kaunas, wo die Erinnerungsfotos gemacht wurden.

Man kann die bunten Karten gut brauchen, sie lassen sich ein bisschen manipulieren, ich habe den apathisch wirkenden Schauspielergesichtern witzige Sprechblasen verpasst und damit kleine Botschaften versendet. Ein Versprechen auf Aliens und Meteoriten schwingt mit. Meteoriten sind immer gut.

Ich überrede G., mit mir zu kommen. Wieso eigentlich? Ich gehe doch sonst am liebsten allein, sitze am Rand in diesem plüschigen Kino, das am Tropf des Innenstadt-Cinemaxx hängt. Aber ich habe G. eine von den bunten Karten geschickt, damit sie mitkommt.

Nachmittags ist es hier fast immer leer. Außer mir gehen nur die letzten Leser der Filmkolumnen in den letzten Tageszeitungen nachmittags ins Kino.

Es gibt auch zu dieser Tageszeit Popcorn, der Geruch liegt warm und schwer im Vorraum. Es wird Platz genug sein, um Abstand zu halten von Popcorn-Essern und von Menschen, die den Film mitsprechen.

G. hat B. mitgebracht, eine vernünftige Person, die im Gegensatz zu uns beiden eines Tages mit dem Schreiben aufgehört und sich für verschärftes Lesen entschieden hat.

Nach langem Abwägen finden wir eine schön menschenleere Reihe, die uns ermöglicht, auch voneinander eine gewisse Distanz zu halten.

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