Der Pizzamann
von Susanne NeufferGibt es für den Begriff »Voyeur« eine weibliche Form? »Voyeuse« klingt nicht gut, außerdem handelt es sich dabei auch – wie ich nachgeschlagen habe – um ein altmodisches Sitzmöbel mit ziemlich krummen Beinen. »Voyante« wäre die Hellseherin, Geisterseherin. Das bin ich auch nicht, ich schaue nur aus dem Fenster meines Zimmers im Gästehaus dieser sehr nördlichen Stadt nach unten. Die Stadt musste schon immer ihre Häuser den Hang hochschieben, sonst wären sie ins Wasser geglitten.
Wahrscheinlich habe ich den besten Blick über die Stadt. Als würde ich in einer Seilbahn sitzen. Ich mache mir ein Vergnügen daraus, die Wagen der Erzbahn zu zählen, die mehrmals täglich voll hin- und leer zurückfährt, und nehme mir vor, endlich jemanden zu fragen, warum man die Wagen leer zurückfahren lässt. Man könnte doch Schokokekse, Trockenfisch, Waffen oder Windeln in den großen braunen Bäuchen transportieren, die hin- und herschwingen, während sie durch die Stadt rattern.
Aber ich sehe noch mehr. Unmittelbar vor mir, unter mir, liegt ein kleines Haus, von dem ich die Rückseite und vor allem das Küchenfenster sehe. Als ich die Küche zum ersten Mal bewusst wahrnehme, ist sie beleuchtet und leer. Ein helles, stilles Quadrat. Ein Mann kommt herein, macht etwas am Herd (mit dem Rücken zu mir). Nun ist auch der Backofen beleuchtet. Der Mann verschwindet, nach einer Weile kommt er wieder, nimmt etwas aus dem Backofen, packt es in Folie, legt es auf den Tisch neben dem Herd. Geht.
Ich beschließe, das Ding für eine Pizza zu halten, und denke, dass er bald Besuch bekommen wird.
Er kommt noch einmal wieder, er hat ein frisches T-Shirt angezogen.
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