Heft 905, Oktober 2024

Wegen der Inseln

von Susanne Neuffer

Etwas veränderte sich in meiner Klasse, die ansonsten harmlos und leicht zu handhaben war, leichter als die dazugehörigen Eltern. Es lag wohl an dem neuen Mädchen, Marsha. Wieder so ein besonderer Name. Es gab viele davon in der Klasse, Namen, über die sich die Eltern wohl lange den Kopf zerbrochen hatten.

Ob sie von Anfang an dunkle Kleidung getragen hatte, kann ich nicht mehr sagen. Aber irgendwann fiel es mir auf, dass Marsha wie eine kleine schwarze Krähe in dem bunten Haufen saß. Wobei bunt etwas übertrieben ist: Die einen leuchten pink und glitzern, die anderen tragen passend zu ihren Vornamen naturfarbene Wolle, Leinen, Hanf über Schottenröcken und groben Strümpfen. Die Mütter scheinen die Bilderbücher ihrer Großmütter geerbt zu haben. Die paar Jungen sitzen eher unbehaglich in grauen und olivfarbenen Trainingsanzügen herum, auf der Suche nach Tarnung.

Von einem Trauerfall in Marshas Familie hatte ich nichts gehört. Am nächsten Tag erschienen Amira und ihre Freundinnen ebenfalls in düsteren Gewändern, sie trugen auch schwarze Kopftücher. Ich fragte lieber nicht nach, auf dem interreligiösen Feiertagskalender im Lehrerzimmer hatte nichts gestanden. Offenbar hatten sie sich Kleidung ihrer Mütter und Tanten ausgeborgt, die Mäntel schlappten über den Boden.

Die Schwarzgekleideten tuschelten manchmal, machten aber normal im Unterricht mit. Im Lauf der Woche gehörten etwa zwei Drittel der Mädchen dazu. Auch die Glitzernden hatten sich teilweise angeschlossen. Ein paar Jungen hatten ihre grauen Hoodies gegen schwarze getauscht. Aber auch weiterhin waren sie alle fast wie immer, manchmal albern, manchmal hochkonzentriert, allerdings etwas weniger laut als sonst. Vielleicht wollte ich deshalb nicht daran rühren. Lärm und Eltern sind die Faktoren, die meinen Beruf mühsam machen, alles andere lässt sich regeln.

Dann ging es in den anderen Klassen los. Nun fragten die Kolleginnen doch, etwas spitzzüngig, wie ich fand, was in meiner Klasse los sei. Die Schulsekretärin, die im Stadtteil gut vernetzt war, hatte etwas von einem Schulprojekt »Die Farbe Schwarz« gehört. Manche Eltern fühlten sich damit überfordert, ständig frischgewaschene schwarze Kleidung bereitzuhalten. Ich wich mit schwachen Ausreden aus, hatte angeblich kaum etwas bemerkt und vor allem kein Projekt gestartet.

Ich wollte Marsha dann doch fragen. Sie schien in dem Geschehen eine zarte, aber zentrale Rolle zu spielen.

Sie stand im Hof bei den Mülltonnen, weil sie Müllwachdienst hatte. Wir haben das eingeführt, um zu verhindern, dass der Müll in der Pause ungetrennt in die Tonnen kommt. Es gehört zu unserem großspurigen Leitbild. Manche Kinder sind gerne Müllwächter, sie spielen sich auf wie wilhelminische Gendarmen, anderen ist der Job offensichtlich peinlich. Vor allem, wenn andere vorbeikommen und sie auffordern, sich doch selbst in die Tonne zu legen.

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