Der Abnehmer
von Susanne NeufferDer kleine Supermarkt – auf unserer Liste Markt Nummer 9 – ist der schlimmste auf der ganzen Tour. In Rollbehältern aufgetürmte Kisten mit Ware, die schon letzte Woche nicht mehr frisch war, Salat und Sushi, grüne Tennisbälle, die sich als schimmelige Orangen erweisen.
Da kommt der kleine Dicke mit seinen Ikea-Taschen und seinem Einkaufstrolley um die Ecke und stellt sich – eine fleischgewordene Aufforderung – vor die Rampe, auf der wir das Zeug sortieren.
Wir haben unterschiedliche Bewertungssysteme für die Frage, was noch gut und unseren Kunden zumutbar ist. Horst, der sich gerne als »Kriegskind« bezeichnet, schaut in jede Kiste, reißt jedes Netz auf, rettet kopflose Schokohasen und auslaufende Müslipackungen. Wolfram ist ein bisschen wählerischer und kann auch mal was mit großem Schwung in die Tonne werfen. Ich prüfe nach Hausfrauenart und neige zum radikalen Trennen von Müll und verzehrbarer Materie. »Fragen Sie Frau Silvia«, lästert Wolfram.
Etwas hat sich eingespielt, obwohl es gegen die Spielregeln unserer Organisation ist. Wir stellen die schwarzen Kisten mit dem Abfall vorne an die Rampe, und bevor wir den Inhalt in die Biotonne hinunterkippen können, kommt unser Abnehmer – so hat Horst ihn genannt –, nimmt sich die Kisten, durchsucht sie routiniert auf Essbares und findet. Er hat keine Angst vor den Schimmelwolken, fischt heile Eier aus dem zerquetschten Karton und greift ohne Zögern nach den Wurstpaketen.
Schon das Gesamtbild ist unangenehm: Wir drei oben auf der Rampe beim schnellen Sortieren, der Mann unten an der Biotonne, die nur so heißt und ein Höllenort aus Matsch und Plastik ist.
Horst wirft dem Abnehmer ab und an gezielt etwas zu, das eigentlich für unsere eingetragenen Kunden bestimmt ist. Wolfram runzelt die Stirn und packt weiter. Ich habe eine kleine legalistische Anwandlung und versuche, dem Abnehmer zu erklären, dass er zur nächsten Ausgabestelle der Organisation gehen und sich dort registrieren lassen kann. Er muss nur seine Bedürftigkeit nachweisen. Das kann ja nicht so schwer sein, wenn einer schon bereit ist, in die Biotonne zu tauchen.
Der Newsletter der Kulturzeitschrift MERKUR erscheint einmal im Monat mit Informationen rund um das Heft, Gratis-Texten und Veranstaltungshinweisen.