Die Genazino-Treppe
von Susanne NeufferDie Treppe und was man sieht
Ich kann der Treppe nicht widerstehen. Meist vermeide ich Rolltreppen, eile an ihnen vorbei die Stufen hinauf mit möglichst flachem Atem, um die Nutzer durch mein Tempo zu beschämen.
Sie ist keine klassische Rolltreppe, sondern ein Laufband, leicht und langsam ansteigend, wie an Flughäfen. Sie hat nicht diese furchteinflößenden beweglichen Kanten aus Eisenzähnen, denen man schon als Kind zu misstrauen gelernt hat, weil sie Schnürsenkel, Zöpfe, nackte Zehen in ihren Bauch ziehen und ein großes, blutiges Unglück verursachen können.
Die Rolltreppe verkehrt zwischen der Basis des Einkaufszentrums und dem höher gelegenen Supermarkt, den ich nie betrete. Ich könnte auch die Stufen draußen, jenseits der Glaswand, nehmen, oben an dem Stand mit den ausgemusterten Blumen und an der 50-Cent-Toilette abbiegen zu der kleinen Ladenstraße gegenüber den Kassen, wo es die Imitationen einer Post, eines Tabakladens und einer Bäckerei gibt. Der Bäcker, bei dem ich kaufe, ist nur ein vorgeschobener Grund.
Grund für die häufige Benutzung des Laufbands sind die Leute, die mir, der Bergauffahrenden, als Bergabfahrende entgegenkommen. Diese Rolltreppe ist breit genug für die Einkaufswagen, die auf ihr transportiert werden. Eine Hand am Griff genügt, die Karren rollen nicht weg. Die Leute, ihre Blicke, ihre Haltung, ihre Einkaufswagen. Das Band ist so langsam, dass die Zeit reichen würde, um sie genau anzuschauen, den Inhalt der Wagen zu taxieren und sich Gedanken zu machen, was diese Menschen mit dem Inhalt ihrer Wagen verbindet.
Ich habe keinen Impuls, die Leute zu beschreiben, denn sie sind ohnehin alt oder jung oder nichts davon, arm oder wohlhabend, eingeboren oder fremd, sehen zufrieden oder mürrisch aus. Manchmal küssen sich tatsächlich zwei während der Fahrt, manche schweigen solange, haben ein ignoriertes Kind an der Hand. Alles ist möglich, nichts ist überraschend, verstörend. Das übliche Spektrum in der Vorstadt einer Großstadt, stadtteilspezifisch, extreme Ausschläge fehlen, zumindest tagsüber.
Ich kann das nicht auf einer einzigen Fahrt gesehen haben, immer wieder fahre ich von unten nach oben, niemals umgekehrt. Inzwischen habe ich den Biobäcker an der U-Bahn verlassen, verraten, ich kaufe jetzt zuverlässig beim Normalbäcker oben am Supermarkt Normalbrötchen, auch wenn die Schilder und Preise hochstaplerisch etwas anderes behaupten.
Die entscheidende Stelle in Genazinos Arbeitstagebuch Der Traum des Beobachters heißt: »Die Ruhe und Schönheit der Menschen, die auf Rolltreppen aneinander vorbeifahren. Es ist das Moment des Fahrens, das sie entlastet.«
Man braucht die Stelle im Buch nicht, um an G. zu denken. Die Rolltreppe bietet eine unauffällige Möglichkeit, beim Flanieren oder auch beim weniger entspannten Erledigen von Gängen Menschen zu beobachten, weil man dazu Zeit hat. Ich kann ihm das nicht mitteilen, er ist ja tot. Außerdem ist er ja selbst draufgekommen.
Flanieren hat, so meint er, »im Kern etwas Infantiles«, obwohl er gleichzeitig behauptet, Flanieren komme bei ihm nicht vor.
Das Infantile kommt wohl daher, dass Kinder so schauen: direkt, mit offenem Mund, lange, so dass der Angeschaute es merken kann, merken muss.
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