Heft 865, Juni 2021

Aller Seelen

von Susanne Neuffer

Almut lag halb auf ihrer rechten Seite, was wieder dazu geführt hatte, dass die rechte Seite sich verkrampfte, verklemmte, teilweise abstarb. Davon wachte sie häufig auf, aufgewühlt von der Frage, ob es sein konnte, dass im Schlaf tatsächlich etwas unwiderruflich abstarb: eine Hand, ein ganzer Arm, ein Fuß. Es begann stets mit einem alarmistischen Kribbeln, ja alarmistisch, dachte sie. Das Wort war in den letzten beiden Tagen dauernd herumgeschwirrt, es war wohl eine Art Schimpfwort, das man in jede Richtung drehen konnte, vielfältig einsetzbar.

Almut kniff sich mit der lebendigen linken Hand in den rechten Arm und versuchte ihn aufzuwecken, aber da lag schon ein anderer Arm schwer auf ihrem, seltsamerweise bedeckt mit trockenen Blättern.

Hatte sie das Fenster offen gelassen? War der Herbst in ihr Tagungsbett geweht? Und wie kam der Arm in ihr Einzelzimmer? Der Arm war kalt, leblos, aus fremder Materie, auch das Bett war kalt.

Es war aus Erde. Sie lag draußen.

Einen endlosen grässlichen Augenblick lang hielt Almut sich für tot. Aber da war ja der alarmistische Schmerz im Arm gewesen, so etwas hatte doch wohl kein Toter. Entführt, verschleppt, in den Wald geworfen? Der Arm, der zentnerschwer auf ihrem lag, gehörte vielleicht einem weiteren Entführungsopfer, das schon tot war, das ihr vorführte, was sie bald sein würde.

Sie strengte sich an, mehr zu sehen und sah: eine liegende Figur im grauen Licht, eine Figur aus grauem Stein, an einigen Stellen von Moos bewachsen, das Gesicht zu Almut gewandt, die Augen geschlossen, ein schönes steinernes Lächeln im Gesicht, wie es sich manchmal über Gräbern erhebt. Irritierend war, dass der Arm der Statue ihren Arm so stark umklammert hielt und nach unten drückte, nicht unangenehm, aber fest.

Ich kann das jetzt nicht lösen, dachte Almut, so was passiert anscheinend.

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