Susanne Neuffer im Merkur

18 Artikel von Susanne Neuffer

Der Abnehmer

Der kleine Supermarkt – auf unserer Liste Markt Nummer 9 – ist der schlimmste auf der ganzen Tour. In Rollbehältern aufgetürmte Kisten mit Ware, die schon letzte Woche nicht mehr frisch war, Salat und Sushi, grüne Tennisbälle, die sich als schimmelige Orangen erweisen. Da kommt der kleine Dicke mit seinen Ikea-Taschen und seinem Einkaufstrolley um die Ecke und stellt sich – eine fleischgewordene Aufforderung – vor die Rampe, auf der wir das Zeug sortieren. Wir haben unterschiedliche

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Warten auf die Jäger

Die Lage ist da. Die Wölfe sind da. Das ganze Gerede und Geraune der letzten Jahre und Monate – jetzt stimmt es. Als der Rufbus mich abgesetzt hat, treten die Nachbarn aus ihren Häusern, ein Empfangskomitee. Alle paar Meter erzählt man mir dieselbe Geschichte in kleinen Variationen. Eine Hirschkuh ist gerissen worden, ihr riesiger Kopf ist übrig geblieben. Das Pferd des Nachbarn lag blutig aufgeschlitzt auf der Weide. Die Behörden schweigen. Die Jäger dürfen nicht schießen. Die Laborbefunde sind nicht

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Wegen der Inseln

Etwas veränderte sich in meiner Klasse, die ansonsten harmlos und leicht zu handhaben war, leichter als die dazugehörigen Eltern. Es lag wohl an dem neuen Mädchen, Marsha. Wieder so ein besonderer Name. Es gab viele davon in der Klasse, Namen, über die sich die Eltern wohl lange den Kopf zerbrochen hatten. Ob sie von Anfang an dunkle Kleidung getragen hatte, kann ich nicht mehr sagen. Aber irgendwann fiel es mir auf, dass Marsha wie eine kleine schwarze Krähe in dem bunten Haufen saß. Wobei bunt etwas

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Götterfunken oder Die Sanftmut der Kannibalen

Dass ich nicht singen kann, habe ich nur dem Major erzählt. Er meinte, es gebe keine unmusikalischen Menschen. Das sagen sie alle. Der Major ist Hausmeister der Stadtbibliothek, in deren Saal wir mittwochs proben. Wie er zu seinem Spitznamen gekommen ist, weiß man nicht. Es gibt Gerüchte, er sei früher beim britischen Geheimdienst gewesen. Dass er keinen Akzent habe, sei normal, das gehöre für Geheimagenten dazu. Er wirkt vertrauenerweckend auf mich. Geschichten aus einer anderen, vergangenen Welt. Als ich

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Überlaufende Beichte

Er muss etwas an sich haben, das die Leute zum Reden bringt. Mein Reisegefährte ist kein Therapeut und auch kein Moderator nächtlicher Ratgebersendungen. Er ist Leitender Wassermeister, zuständig für frisches und schmutziges Wasser in einem riesigen Einzugsgebiet. Eine Aufgabe, die ruhiges Handeln und sachbezogenes Reden verlangt. In seiner Arbeitsplatzbeschreibung dürfte etwas von Kommunikationsfähigkeit stehen wie in jeder anderen Arbeitsplatzbeschreibung auch. Ich denke jedoch nicht, dass die Kollegen im

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Schwerin-Süd oder Die Zeitlang

Eine unbestimmte Sehnsucht ist ausgebrochen. Eine Art Zeitlang, wie man im Süden sagt, etwas wie Verlangen, Heimweh. Nach der langen Rückfahrt via Schwerin-Süd muss sie blättern, nachlesen, Erinnerungsbilder überprüfen. Zeitlang macht sich leise bemerkbar, als sie in Schwerin-Süd ankommt, hat sich aber wohl schon auf der langen, ruhigen Bahnfahrt dorthin ausgebreitet. Nach Schwerin-Süd kommt man, wenn man das Deutschland-Ticket benutzt, um von Berlin nach Hamburg zu fahren. Das hat jetzt nichts mit den Sünden

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Aurora oder Ich war da

Ich gebe zu, dass ich die Thematik im Prinzip schon längst abgearbeitet hatte: den Weltraum, den Mars, die Möglichkeit, in etwas hineingezogen zu werden, das verlockende und bedrohliche Blinzeln und Zwinkern einer anderen Art von Intelligenz. Zwei oder drei Kurzgeschichten, ein paar Gedichte. Aber ich bin dem Thema nun mal verfallen, und so betrete ich am Morgen das Visitors’ Space Center eines friedfertigen Landes an der Peripherie Europas. Sie sollen mich teilhaben lassen an den Projekten und Plänen

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Der Pizzamann

Gibt es für den Begriff »Voyeur« eine weibliche Form? »Voyeuse« klingt nicht gut, außerdem handelt es sich dabei auch – wie ich nachgeschlagen habe – um ein altmodisches Sitzmöbel mit ziemlich krummen Beinen. »Voyante« wäre die Hellseherin, Geisterseherin. Das bin ich auch nicht, ich schaue nur aus dem Fenster meines Zimmers im Gästehaus dieser sehr nördlichen Stadt nach unten. Die Stadt musste schon immer ihre Häuser den Hang hochschieben, sonst wären sie ins Wasser geglitten. Wahrscheinlich habe

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Das leibliche Wohl

Es soll ein besonderes Fest werden. Die Wohnung ist klein, der Freundeskreis groß. Die Gastgeberin hat auf jeden Fall zu viele Menschen pro Quadratmeter eingeladen, zum Teil werden sich auch kritische Konstellationen ergeben, die bislang sorgfältig vermieden wurden. Aber nun ist es eben passiert, und diese wichtigen Menschen müssen zur selben Zeit auf kleinem Raum untergebracht, verköstigt und unterhalten werden, und das bei angemessenem Abstand, sollte man meinen, noch sind die Auslaufzonen jener Seuche in

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Die Balkonszene oder Einen wichtigen Film sehen

To boldly go where no man has gone before Man muss den Film gesehen haben, heißt es. Das ist kein Argument, wirkt aber doch im Verborgenen. Der Regisseur ist ein Kultfilmer. Er hat schon mehrere Kultfilme gemacht, die ich nicht gesehen habe. Die Zahl der verpassten Kultfilme in meinem Leben ist groß. Ich habe zum Beispiel Twin Peaks nicht gesehen, nein, wirklich nicht. Es nützt wohl nichts, dass ich Melancholia schon ziemlich oft gesehen habe. Aber Melancholia ist ein Film, der gute Laune macht, das braucht

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Hingabe und Verzückung

Der Leser wird bald sehen, dass das Heilige und das Profane zwei Arten des In-der-Welt-Seins bilden […] Mircea Eliade Irgendwann passiert es im realen Leben, mit derselben Zuverlässigkeit, mit der das in diesen Romanen auftaucht, die wir angeblich nicht lesen, nur ab und zu. Einer, eine von früher erscheint auf der Bildfläche, nach Jahren, Jahrzehnten, gibt ein Cello-Konzert in der Stadt, nimmt an einem IT-Kongress, einer Trauerfeier teil und bringt alles durcheinander. Verunsicherung, Aufflackern von

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Die Genazino-Treppe

Die Treppe und was man sieht Ich kann der Treppe nicht widerstehen. Meist vermeide ich Rolltreppen, eile an ihnen vorbei die Stufen hinauf mit möglichst flachem Atem, um die Nutzer durch mein Tempo zu beschämen. Sie ist keine klassische Rolltreppe, sondern ein Laufband, leicht und langsam ansteigend, wie an Flughäfen. Sie hat nicht diese furchteinflößenden beweglichen Kanten aus Eisenzähnen, denen man schon als Kind zu misstrauen gelernt hat, weil sie Schnürsenkel, Zöpfe, nackte Zehen in ihren Bauch ziehen

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Kunst, du Holde

Ein Kulturtrip Wie war dein Kultursommer? Die Frage verblüffte mich, obwohl niemand sie mir persönlich stellte, sie stand herausfordernd auf einem Plakat am hinteren Bahnsteig, wo es doch meistens um Reiseschokolade geht. Die Frage kam mir sinnlos vor, denn was sollte das Präteritum in einer Werbebotschaft, die nach vorne gerichtet sein sollte. Ein Zug fuhr ein und verdeckte eine mögliche Auflösung durch kleiner Gedrucktes – ein Versprechen auf herbstliche Fortsetzung oder Großartiges im Winter. Aber die

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Die Sache mit den Postkarten

Eine moralische Geschichte Sie hat es mir erzählt, als schon nichts mehr zu reparieren war, in dem Eiscafé, das wegen der Hygiene dauernd durchgelüftet wurde, der Wind fuhr vom Hinterhof zur Straßenseite und zurück, man fragte sich, wieso man in dieser Jahreszeit noch Eis essen sollte. Ich nenne sie Smeralda, so heißt sie nicht, aber es ist ein Vorname mit acht Buchstaben, und darauf kommt es an. Sie war mit Urban im Urlaub gewesen und hatte ihm am siebzehnten Tag ebenso fasziniert wie gelangweilt zugesehen,

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Perseverance

It’s only a matter of time Teil einer Studie sein. Wie fühlt sich das an? Sol wird es bald wissen. Es geht nicht um Krankheiten, da würde sie nie mitmachen, viel zu gefährlich, wer weiß, was sie da mit einem machen. Für ein paar Euro mehr versaut dir die Pharmaindustrie die Gesundheit. Es geht um Technik, Fortschritt. Unser Verhältnis dazu. Etwas Gesellschaftliches, Kulturelles. »Ach, ist das abgedroschen«, sagt Ina, die Freundin. »Das Mensch-Maschine-Problem. Langweilig.« »Aber das ist unsere Realität«,

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Aller Seelen

Almut lag halb auf ihrer rechten Seite, was wieder dazu geführt hatte, dass die rechte Seite sich verkrampfte, verklemmte, teilweise abstarb. Davon wachte sie häufig auf, aufgewühlt von der Frage, ob es sein konnte, dass im Schlaf tatsächlich etwas unwiderruflich abstarb: eine Hand, ein ganzer Arm, ein Fuß. Es begann stets mit einem alarmistischen Kribbeln, ja alarmistisch, dachte sie. Das Wort war in den letzten beiden Tagen dauernd herumgeschwirrt, es war wohl eine Art Schimpfwort, das man in jede Richtung

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Flugstunde

Eine Geschichte aus dem April 2020 Alle müssen sich umstellen, heißt es. Das ist für keinen leicht, sagt die Nachbarin und verabschiedet sich in ihre Wohnung. Die Kanzlerin sagt es auch, sie ist schon in ihrer Wohnung, aber man kann nicht viel erkennen. Es wäre zu schön, mal zu sehen, ob sie auch so eine Schrankwand und eine Sitzecke mit Stehlampe hat wie andere Leute. Ingelore, sie nannte sich früher manchmal selber Ilo, was aber einen gewissen Beigeschmack hat (nach Hühnchen oder Fluglinie, sagte mal eine

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