Die Sache mit den Postkarten
Eine moralische Geschichte von Susanne NeufferSie hat es mir erzählt, als schon nichts mehr zu reparieren war, in dem Eiscafé, das wegen der Hygiene dauernd durchgelüftet wurde, der Wind fuhr vom Hinterhof zur Straßenseite und zurück, man fragte sich, wieso man in dieser Jahreszeit noch Eis essen sollte.
Ich nenne sie Smeralda, so heißt sie nicht, aber es ist ein Vorname mit acht Buchstaben, und darauf kommt es an.
Sie war mit Urban im Urlaub gewesen und hatte ihm am siebzehnten Tag ebenso fasziniert wie gelangweilt zugesehen, wie er Postkarten schrieb, alle Postkarten dieser Reise an alle üblichen Empfänger.
»Er schreibt immer nach zwei Dritteln der Zeit«, sagte Smeralda, »dann, wenn er sich erholt hat, und dann schreibt er immer alle auf einmal, auch wenn wir gar nicht mehr da sind, wo er die ersten Postkarten gekauft hat.«
Postkarten sind ein seltenes Gut geworden, eher eine Art ironisches Geschenk, das aus der Zeit gefallen ist wie vieles andere, auch die Wendung »aus der Zeit gefallen« wird wohl bald diesen Weg gehen. Ich habe noch nie eine Postkarte von Urban und Smeralda bekommen, nur immer von Smeralda ein lustiges abenteuerliches Foto als Mailanhang mit einem scherzhaften Text, der sehr darauf achtet, keinen Neid zu erregen, sondern die Mühen und Herausforderungen des Reisens zu betonen.
Urban also hatte einen Stapel Karten vor sich gehabt, außerdem einen Haufen vorsorglich mitgebrachter Umschläge und die riesigen bunten Briefmarken des Landes, die so teuer wie Gold waren, weil das Land den Leuten die Benutzung der wenigen kleinen roten Briefkästen abgewöhnen will.
»Ist doch nett«, sagte ich und sah zu, wie der Wind vor der Glastür blassblaue Masken vor sich her trieb. Mir war schon klar, dass wir uns am Beginn eines Geständnisses befanden und dass sich gleich ein mitteltiefer Abgrund öffnen würde. Smeralda war dann also, damit Urban seine Post in Ruhe erledigen konnte, im Nationalpark, der sich hinter dem Ferienhaus öffnete, spazieren gegangen. Sie war auf dem Weg geblieben, hatte vorsichtig nach rechts und links geschaut, um keines der versprochenen Wildtiere zu übersehen, war dann, weil sich weder Bär noch Luchs hatten blicken lassen, erleichtert in die Siedlung zurückgekehrt, hatte beim Lebensmittelhändler einen Kakao getrunken und gegen den üblichen Kaufrausch gekämpft, der sich in kleinen Läden am Ende der Welt einzustellen pflegt.
»Ach, er hatte wirklich alles«, sagte Smeralda sehnsüchtig, »geschnitzte Brotkörbe und zwanzig Sorten Lakritz und Wolle, einfach alles.« Sie hatte zwei Sorten Lakritz gekauft und war zu Urban zurückgekehrt, der bereits mit dem Beschriften der Umschläge angefangen hatte.
»Wieso eigentlich Umschläge?«, fragte ich. »Er schreibt die Postkarten immer ganz voll«, sagte Smeralda, »damit es sich lohnt, die ganze Arbeit und so.« Etwa zwei Drittel der Postkarten schob Urban zu ihr hin, als sie sich an den Tisch setzte.
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