Götterfunken oder Die Sanftmut der Kannibalen
von Susanne NeufferDass ich nicht singen kann, habe ich nur dem Major erzählt. Er meinte, es gebe keine unmusikalischen Menschen. Das sagen sie alle.
Der Major ist Hausmeister der Stadtbibliothek, in deren Saal wir mittwochs proben. Wie er zu seinem Spitznamen gekommen ist, weiß man nicht. Es gibt Gerüchte, er sei früher beim britischen Geheimdienst gewesen. Dass er keinen Akzent habe, sei normal, das gehöre für Geheimagenten dazu.
Er wirkt vertrauenerweckend auf mich. Geschichten aus einer anderen, vergangenen Welt.
Als ich meinen Namen auf die Liste schrieb, glaubte ich das Zucken um den Mund und um die Augenwinkel der Frau zu sehen, die die Chorliste und die Kasse verwaltet.
Ich heiße nun mal Alma Wagner. Manche Menschen lassen sich etwas anmerken (Kennerschaft? Amüsement?), weil ihr Hirn nach dem Namen Alma etwas anderes erwartet. Da passt etwas nicht zusammen, aber sie wissen nicht sofort, was.
Die Frau, die die Liste und die Kasse führt, Marianne, hat also erwartungsgemäß reagiert. Sie ist nicht die Frau, die die Noten verwaltet. Das ist Karin. Es gibt dann noch eine Frau, die für Feste und Aufführungen zuständig ist – Erika? –, und eine für die Öffentlichkeitsarbeit. Deren Namen habe ich nicht richtig mitbekommen. Es gibt auch einige Männer, drei oder vier Bässe, die müssen aber keine Ämter übernehmen, scheint es.
So muss die Chorleiterin nur noch dirigieren. Ich muss hoffentlich nur singen und meinen Stuhl vor und nach den Proben zurück ins Stuhllager tragen, zusammen mit den Stühlen von besonders nachlässigen Chormitgliedern, die tatsächlich nur zum Singen kommen und sofort wieder verschwinden. Das erfährt man alles bei der ersten Probe, oder man lernt es nie.
Es gibt noch eine Frau im Chor, die die Fotoliste verwaltet. Wozu braucht ein Chor eine Fotoliste? Ich denke, ich habe zu viele Agentenromane gelesen und bin zu aufmerksam.
Aufmerksam muss man sein, wenn man eine Karriere bei den Diensten anstrebt. Die Tochter meiner Nachbarin bewirbt sich gerade beim Verfassungsschutz. BND fände sie auch cool, hat sie gesagt, den Unterschied zwischen beiden müsse sie noch recherchieren. Das Video vom BND sei irgendwie heftiger gewesen, dunkler, mehr so wie in den Serien. Ich hatte meine boshaften Minuten und fragte sie, ob sie auch den MAD in Erwägung ziehe. Echt nein (sie wusste nicht, dass es ihn gibt), aber danke für den Tipp.
Wir singen jetzt die Ode an die Freude. Vorher wird kurz diskutiert über das Wort »Brüder«. Eine Frau, die Tenor singt – es gibt in diesem Chor nur weibliche Tenöre –, hat angefragt, ob das noch zeitgemäß sei. Brenda natürlich, zischt die Altstimme hinter mir. Um mich herum sind lauter Altstimmen. Ich bin ja auch eine oder möchte gerne eine werden. Ganz kurzer Disput über Brüder, Schwestern, Schiller, dann stoppt die Chorleiterin das Ganze, wirft uns summend unsere Ausgangstöne zu, und los geht es.
Solange ich zwischen den mächtigen Altstimmen von Erika und Marianne eingeklemmt bin und hinter mir auch noch ein paar tragende Stimmen stehen, werde ich hoffentlich nicht auffallen.
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