Heft 902, Juli 2024

Schwerin-Süd oder Die Zeitlang

von Susanne Neuffer

Eine unbestimmte Sehnsucht ist ausgebrochen. Eine Art Zeitlang, wie man im Süden sagt, etwas wie Verlangen, Heimweh. Nach der langen Rückfahrt via Schwerin-Süd muss sie blättern, nachlesen, Erinnerungsbilder überprüfen.

Zeitlang macht sich leise bemerkbar, als sie in Schwerin-Süd ankommt, hat sich aber wohl schon auf der langen, ruhigen Bahnfahrt dorthin ausgebreitet. Nach Schwerin-Süd kommt man, wenn man das Deutschland-Ticket benutzt, um von Berlin nach Hamburg zu fahren. Das hat jetzt nichts mit den Sünden und Nachlässigkeiten der Bahn zu tun.

Wie kommen Entscheidungen zustande?

Der ernsthafte Teil des Berlin-Besuchs ist vorüber – ein Interview mit Architekturstudenten, die Kirchen zu Kühlräumen für die nächsten heißen Sommer umwidmen wollen. Sie haben lebhaft über Versicherungsfragen, Schutz des sakralen Raums, Teeküchen, verborgene Sanitärräume, Umgruppierung von Kirchenbänken geredet. Sie haben sauber gebastelte Modelle gezeigt, im fröhlichen Widerstand gegen kulturelle Vorbehalte und angekündigten Untergang. Sie wird daraus einen konsumierbaren Artikel für die Sonntagszeitung machen, mit einem nur leicht dystopischen Unterton. Alles andere wäre unfair.

Am frühen Nachmittag findet sie sich unentschlossen im Humboldt-Forum wieder, obwohl die jungen Leute sie gewarnt haben, stochert im Bistro im Innenhof in einem langschiffig angeordneten orientalischen Gericht und versucht, an Kaltes zu denken, damit die Schweißbäche aufhören, an ihr herunterzulaufen. Die Stadt ist heiß, das Humboldt-Forum liegt weißgelb und hitzeklirrend in der Sonne. Vermutlich hat sie da das erste Mal an Algier und die große Hitze am Strand gedacht, von der sie vor Jahren gelesen hatte.

Über das Humboldt-Forum gibt es nichts zu denken oder zu sagen, was nicht schon gesagt wurde. Sie lässt die Flyer mit den Ausstellungen und den dazu passenden Verkehrsverbindungen zu Boden fallen, sieht ihnen beim müden Wegflattern zu. Wieder einmal resigniert sie vor den Verheißungen der Stadt, sucht den Weg nach Spandau und springt – ach, sie wirft sich – beinahe in den falschen Zug nach Nauen und dann doch noch mit einer entschlossenen Wendung in den richtigen nach Schwerin, der geduldig auf sie gewartet hat. Beide Lokomotiven schauen gleichgültig nebeneinander in die Sonne.

Namen, Bilder. Gabriel Marcel stand zwar in den Übersichten und philosophischen Wörterbüchern, aber er wurde damals nicht gelesen, nicht von ihr und auch nicht von den anderen um sie herum. Es musste schon Existenzialismus pur sein, wenigstens für eine gewisse Zeit. Überhaupt musste vieles, alles pur sein. Der Gedanke an Reinheit spielte in jenen Jahren, als man lernte, eine große Rolle.

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