Heft 894, November 2023

Verlustfrei

von David Gugerli

Verluste werden in Bilanzen festgehalten oder in Anzeigen bekanntgemacht. Sie werden also dank spezialisierter Kanäle gesellschaftlich verfügbar gehalten und lassen sich anschließend rituell, rechtlich oder rhetorisch behandeln. Was jedoch nicht als Verlust taxiert wird, sondern bloß verschwindet, tut das in der Regel sang- und klanglos. Denn zunehmende Bedeutungslosigkeit kann nicht registriert werden und wird deshalb auch nur beiläufig kommentiert.

Die Geschichte der MiniDisc bestätigt diesen (soziologischen) Unterschied zwischen Verlust und Verschwinden nur zum Teil. Die großen Erwartungen an das 1992 eingeführte Speicherformat für Musik sprechen dafür, dass sein Ableben als großer Verlust hätte registriert werden müssen: Es versprach alles für die privaten Musiksammlungen der Welt, war ziemlich kopierfähig, stets aufnahmebereit, sicher zu transportieren und dennoch einigermaßen bezahlbar. Für unterwegs, beim Flanieren der MTV-Generation durch die Malls und Fußgängerzonen der Städte störte der Qualitätsverlust zur CD kaum. Anders als beim Walkman musste man den gerade jetzt dringend gebrauchten Song nicht durch langes Spulen suchen, und anders als beim Discman konnte man sich selber dennoch bewegen. Zudem gab es begründete Aussichten, in ein Medium der Zukunft investiert zu haben. Einige Musikproduzenten vertrieben ihre Alben bereits im komprimier-ten MiniDisc-Format. In Japan entstanden spezialisierte Mediatheken und einschlägige Copyshops. Andernorts kamen MiniDisc-Laufwerke für HiFi-Anlagen, elegante Automobile und für erweiterte PCs in die Verkaufskataloge – auf dem neuen Medium ließ sich außer Musik alles speichern, was die Festplatte belastete oder verschenkt und verteilt werden musste.

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