Heft 890, Juli 2023

Unübersichtlichkeit

von David Gugerli

In der Welt der IT verschwindet immer gerade etwas, seien es nun Maschinen, Personal, Programme, User, Adressaten oder Daten – mitunter selbst in mächtigen, gut finanzierten und klug aufgebauten Organisationen. Das zeigt eine computerhistorische Wende, deren Urszene gern am europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf verortet wird und 1989 stattgefunden haben muss. Wer sich für Vorgänge interessiert, die ganz kurz nach dem Urknall angesiedelt werden, muss wohl von allem, was sonst noch in der Welt passiert, annehmen, es sei zuerst und besonders früh in der eigenen Organisation geschehen.

Seit seiner Gründung 1954 hatten am CERN unzählige Techniker und Wissenschaftlerinnen ungezählte Experimente in physikalischer Grundlagenforschung durchgeführt und die erhaltenen Messresultate ausgewertet. Seit 1958 setzte man dafür Computer ein. Vielleicht müsste man auch sagen: Weil 1958 ein großer Ferranti-Rechner am CERN angeschafft worden war, ließen sich die am ersten Teilchenbeschleuniger durchgeführten Experimente vernünftig auswerten.

In den folgenden Jahrzehnten hat sich die informationstechnologische Landschaft des CERN ins Unüberschaubare ausgedehnt. Tausende von Angestellten und Wissenschaftlerinnen interagierten mit Zehntausenden von Servern, Großrechnern, PCs, Harddisks und Magnetbandstationen. Manchmal wurde dieses Personal von großen Experimentalanlagen und langfristigen Zielen zusammengehalten, manchmal war es in kleineren Forschungsteams mit einem physikalischen Spezialproblem beschäftigt. Manchmal mussten die Teilchenphysiker vorübergehend in Genf anwesend sein und an Messstationen Schicht schieben, danach waren sie wieder irgendwo auf der Welt an einem Institut für Hochenergiephysik damit beschäftigt, aus den noch nicht eliminierten Daten eines Beschleunigers theoretisch vertretbaren Sinn zu erzeugen, Berichte zu schreiben, Ergebnisse zu publizieren, neue Forschungspartner auf neue Projekte einzuschwören und den aufwändigen Betrieb des CERN auch an dessen globaler Peripherie zu ertragen.

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