Tabula rasa
von David GugerliRoden und planieren, abfackeln, schleifen und sprengen – auf alle Fälle von vorne beginnen, so radikal, wie es die Philosophie verfügen kann, die Pädagogik es voraussetzt und die moderne Architektur es sich in immer raffinierteren Varianten vorstellt, oft zusammen mit Abrisstrupps, Baufirmen und rücksichtslosen, also weitsichtigen Machthabern. Man denke nur daran, wie der Baron von Haussmann und Napoleon III. aus Paris Paris gemacht haben.
In der Architektur- und Stadtbaugeschichte wird der radikale Neuanfang gerne mit der Notiztafel der Antike verknüpft. Auf ihr war der Unterschied zwischen Schreiben und Löschen, zwischen Zerstörung und Konstruktion nur eine Stilfrage: Mit dem spitzigen Ende des Stylus ließen sich mutige Entwürfe und provisorische Gedanken in Wachs festhalten, mit dem anderen, spatelförmigen Ende aber alles im Handumdrehen zum Verschwinden bringen. Tabula rasa.
Schreibtechnisch ist das so naheliegend wie verständlich. In Architekturbüros und Regierungspalästen, beim Abriss und auf dem Bauplatz wird der Begriff zur Metapher und die Sache damit anspruchsvoll. Die Heroisierung des Entwurfs auf dem eben noch weißen Blatt Papier und die unübersehbare Verniedlichung seiner Folgen lassen sich kaum mehr unterscheiden. Ist Le Corbusiers Plan Voisin von 1925 die Drohung, das Marais abzureißen, oder das großartige Versprechen, Wohnmaschinen könnten konsequent seriell hergestellt werden? Wessen Wohnraum hätten seine einheitlichen Wohntürme konzentriert? Rechnete Albert Speer bei seinen Entwürfen für die Welthauptstadt Germania schon immer mit der Zerstörung Berlins, und wenn ja, durch wen? War Brasília die von der Verfassung und mit Planierraupen vorbereitete Tabula rasa für die neue Hauptstadt des Landes oder einfach der große Platz für die Entwürfe von Oscar Niemeyer und Lúcio Costa?
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