Heft 919, Dezember 2025

Vollkommen zersplittert

Ein Leibniz-Europa als Modell für die Welt von Moritz Rudolph

Ein Leibniz-Europa als Modell für die Welt

Jürgen Habermas ist so etwas wie der vorauseilende Hausphilosoph der Europäischen Union. Jede Bewegung im gemeinsamen europäischen Bauvorhaben wird von ihm aufmerksam registriert, kommentiert – und in den vergangenen Jahren häufiger auch kritisiert. Denn das Projekt Europa ist ins Stocken geraten. Allen Vorschlägen aus Paris zum Aufbau einer gemeinsamen »Souveränität« zum Trotz klammern sich die Nationalstaaten eifersüchtig an ihre Kompetenzen. Vor allem von ihrer Steuer- und Wehrhoheit, den roten und weißen Blutkörperchen des Staates, wollen sie partout nichts hergeben, weshalb es mit Europa schon seit Jahren nicht so recht vorangeht. Doch nun könnte Bewegung in die Sache kommen. Die Infragestellung des US-Atomschirms durch Donald Trump hat die Europäer aufgeschreckt, Umfragen zufolge fühlen sie sich europäischer denn je, und die Befürworter einer Verteidigungsgemeinschaft werden mehr.

So sieht auch Habermas die Chance zu einem weiteren Integrationsschritt gekommen. In der Süddeutschen Zeitung forderte er den Aufbau gemeinsamer Verteidigungskapazitäten, um den Wegfall der amerikanischen Sicherheitsgarantie zu kompensieren. Daraufhin entspann sich eine kleine Debatte: Der Historiker Norbert Frei pflichtete Habermas bei, wies jedoch auf das Bedrohliche der Situation hin, denn falls es nicht klappt, eine gemeinsame Militärpolitik aufzubauen, stünden sich bald hochgerüstete nationale Armeen in Europa gegenüber. Der Publizist Joseph de Weck zeigte sich in der Frankfurter Allgemeinen optimistischer: Er sah den Moment zur »Wiedergeburt« Europas gekommen, den heißersehnten Übergang vom Staatenbund zum Superstaat. Nur der Philosoph Paolo Becchi goss in der Berliner Zeitung etwas Wasser in den leckeren europäischen Wein: Europa werde sich nie zu einer Gemeinschaft zusammenschließen, die Identitäten seien regional und national verankert, und die Schaffung eines Brüsseler Supergebildes werde daran nichts ändern. Konflikte könnten sich eher verschärfen.

Interessant ist nun, dass sowohl Becchi als auch Habermas einen Punkt haben: Wenn Europa sich nicht zusammenschließt, wird es zum Spielball der anderen Großmächte, ein gefundenes Fressen vor allem für Putins Russland. Wird die Vereinigung jedoch mit der Brechstange durchgeführt, können Konflikte im Innern ausbrechen, die Europa ebenfalls destabilisieren. Außerdem verstärkt der Ausbau Europas zur Großmacht die Spannungen mit anderen Großmächten, die Kriegsgefahr steigt.

Der geheime Vater Europas

Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet möglicherweise die Harmonielehre von Gottfried Wilhelm Leibniz, immerhin der geheime Vater der europäischen Einigung, der seltsamerweise kaum zur Begründung Europas herangezogen wird. Das EU-Motto »E pluribus unum« (»aus vielen eines«) variiert Leibniz’ Überzeugung, dass sich Ordnung und Verschiedenheit gegenseitig bedingen: Jedes logische, physische, metaphysische und gesellschaftliche System müsse der unendlichen Vielfalt menschlich-göttlicher Ausdrucksformen Rechnung tragen und sie rechtlich in einen harmonischen Zusammenklang bringen. Leibniz’ Suche nach Harmonie wurzelt in der Nachkriegsgesellschaft des späten 17. Jahrhunderts. Europa, vor allem Deutschland, hatte sich im Dreißigjährigen Krieg zerfleischt, fortdauernde religiöse Streitfragen ließen den Frieden als fragilen Kompromiss erscheinen, und die aus dem Konfessionskampf gestärkt hervorgegangenen Fürsten machten dem Kaiser das Regieren schwer.

Wie allem Chaos zum Trotz Ordnung in die Welt kommt – und am Ende sogar das Gute, das Bestmögliche –, fragte sich der 1646 in Leipzig geborene Tausendsassa auf verschiedensten Gebieten. Leibniz war Jurist, Philosoph, Mathematiker, Historiker, Sprachforscher, Erfinder, Diplomat und Politikberater. Er arbeitete unter anderem für den Kurfürsten von Mainz und den Herzog von Braunschweig, aber auch als Berater des Kaisers. In zahlreichen Denkschriften machte Leibniz Vorschläge zur Reform des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, eines Gebildes, das der heutigen EU erstaunlich ähnlich war: Schwankend zwischen Zentral- (damals Kaiser, heute EU-Institutionen) und Partikulargewalt (damals Fürsten, heute Nationalstaaten), war das Reich weder ein Staatenbund noch ein Bundesstaat. Der Rechtsgelehrte Pufendorf bezeichnete es als »irreguläres Monstrum«, das sich der üblichen politischen Theorie entzieht und Aristoteles Kopfzerbrechen bereitet hätte. Das Reich war Monarchie und Aristokratie, Staat und Nichtstaat, Einheit und Vielheit zugleich. Nach innen wirkte es strukturlos, nach außen schwach – ein gefundenes Fressen für expansionistische Herrscher wie Ludwig XIV., der das Reich von Westen her bedrohte, und Sultan Mehmed IV., der es im Osten angriff.

Vorschläge zur Reichsreform

Leibniz schlug daher vor, den Kaiser mit zusätzlichen Kompetenzen auszustatten, um die Verteidigungsfähigkeit des Reiches zu stärken. Auch sollte eine gemeinsame Bundeskasse eingerichtet werden. Gleichzeitig war Leibniz jedoch ein Befürworter der Fürstenautonomie. In den Landesherren erkannte er die wahren Regenten, die ihre jeweiligen Kleinstaaten – es gab mehr als dreihundert – geschickter lenken können als der ferne Kaiser aus Wien. In Leibniz’ Parteinahme fürs Partikulare haben einige Interpreten ein Einknicken vor den machtpolitischen Realitäten gesehen. Allerdings war Leibniz in anderen Zusammenhängen nie um einen großen Wurf verlegen, egal wie abenteuerlich er auch schien: Dem französischen König empfahl er beispielsweise ein Engagement in Ägypten und dem russischen Zaren die Suche nach einer Landverbindung nach Amerika. Wenn Leibniz also das Reich mit seinen Partikulargewalten verteidigte, dann dürfte er tatsächlich davon überzeugt gewesen sein, dass hier Vernunft im Spiel ist.

Tatsächlich gibt es eine tiefe Übereinstimmung zwischen Leibniz’ Metaphysik und seinen Denkschriften zur Reichsreform. In beiden kommen Vielheit und Ordnung, Zerstreuung und Bündelung, Kleines und Großes zu ihrem Recht. Leibniz ist der Philosoph der winzigen Monade – eine Art beseeltes Atom – und der »universalen Harmonie«, des großen Zusammenklangs, des kosmischen Konzerts aller Dinge. Ihm scheint eine beinahe dialektische Beziehung vorzuschweben, wenn er schreibt: »Je größer sowohl die Vielfalt als auch die Einheit in der Vielfalt, desto größer ist die Harmonie.« Das Zusammenwirken ergibt sich für Leibniz also aus der Vielheit, die sich voll und ganz ausleben kann. Wo dies unterbunden wird, wird dagegen die Harmonie gestört. Es knirscht und knackt im Gebälk, und irgendwann stürzt es zusammen.

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