Gestreiftes
von Sibylle SeverusZurück auf dem Hochmoor über Romainmôtier, begrüße ich wie immer die beiden Menhire. Seit Menschengedenken stehen sie dort als Ruheplatz für den Seelenvogel und aus astronomischen Gründen. Sie bewachen eine Kreuzung, die Querachsen der Pilgerwege, die ganz Europa miteinander verbinden, dieses grandiose Europa.
In dem ehemaligen Pilgerhaus einer uralten Abtei in Romainmôtier hatte ich mich eingerichtet. Die Steinstufen und Böden sind seit tausend Jahren von Menschenfüßen niedergetreten. Hier ist mein Ort.
Allein in dieser Burg. Wände, fest wie zusammengepresster Schnee. Draußen verkündet eine helle Glocke die Zeit, die an den meisten Orten eine andere ist.
Über bucklige Steinstufen geht es hinunter in die Küche; ein Raum, hoch, dunkel, weit.
Fliegen laufen neben ihren Schatten kreuz und quer über den Tisch. Sie tänzeln über das Brot, sie balancieren am Rand der Tasse, am Henkel der Kanne, auf dem Obst, landen kitzelnd auf Händen, auf Armen, auf Füßen, sie laufen kopfüber an der Decke entlang und sind das Zierlichste vom Zierlichen.
Ich habe die Küche und meine Mahlzeiten mit den Mouches, wie sie hier heißen, zu teilen. Im kleinen Dorfladen hängt, leicht eingerollt, ein Fliegenfänger mit totem Getier; es muss ein lang dauerndes Verenden sein.
In der Burgküche stehend, überlege ich, ob ich die Fliegen mit einer gefalteten Zeitung erschlagen will oder ob ich Gift kaufen und die Gesellschaft mit scharfem Geschütz tilgen soll. Vom Zuschlagen sehe ich ab, es graust mir vor den blutigen Flecken. Doch liegt im Schrank eine Fliegenklatsche aus Plastik: groß, gelb, mit rotem Stiel.
Als ob ich sie gesucht hätte.
Zunächst fotografiere ich die Fliegen, wie sie ahnungslos über die spielzeugbunte Klatsche laufen. Ich wünsche mir einen Wintereinbruch, damit die Insekten eines natürlichen Todes stürben.
Früher hatte es mich nicht gestört, Fliegen zu zerquetschen. Es war eine Notwendigkeit gewesen im Krieg. Man hatte die Wahl: die Läuse, die Fliegen, die Motten, die Mäuse – oder der Mensch.
Mit dem Besuch, den ich beschwingt erwarte, möchte ich nicht an einem von Fliegen umschwirrten Tisch essen.
Gibt es Fliegenfrauen und Fliegenmänner?
Ein Paar scheint blitzschnell zu kopulieren.
Ich weiß wenig über die Lebewesen, die zu töten ich nicht ausschließen kann. Ein einziger Name der zahllosen Arten ist mir bekannt: Mosaikjungfer.
Wörter sind Zündstoffe, denke ich und kaue Brot: Statt Mosaikjungfer »Geschmeiß«, und schon ist Töten möglich.
(Im Internet erfahre ich, dass Mosaikjungfern keine Fliegen, sondern Libellen sind, farbenprächtige Raubtiere. Die Gemeine Fruchtfliege hat dagegen keinen poetischen Namen, nur den lateinischen: Drosophilidae.)
Im ganzen großen Gebäude gibt es außer mir nur noch die Mosaikjungfern. Fünf, mit mir also sechs lebende Kreaturen.