Philosophische Toxikologie
von Jens SoentgenSo viel Gift war nie. Angesichts immer neuer, synthetisch produzierter Stoffe, aber auch durch die beschleunigte und umfassende Mobilisierung von altbekannten Chemikalien entsteht bei vielen Beobachtern der Eindruck, der gesamte Planet werde allmählich toxisch. Mit Blick etwa auf die stetig steigenden Mengen von Pestiziden, die weltweit produziert und ausgebracht werden, scheint dieser Eindruck durchaus berechtigt. Auch die von Jahr zu Jahr intensiver werdenden Bergbauaktivitäten führen sehr oft zu vergifteten Landschaften und arsenhaltigen Gewässern, sowie zum Schadstoffeintrag in die Atmosphäre.
Und so ist es nicht erstaunlich, dass in den letzten Jahren Publikationen zu Gift und Giftigkeit, man verzeihe das alte, hier aber passende Bild, wie Pilze aus dem Boden schießen. Doch es sind nicht etwa Toxikologen, Ökotrophologen oder Mediziner, sondern vermehrt Geisteswissenschaftler, die sich mit »toxicity« befassen. Was haben sie im Giftdiskurs verloren, was haben sie beizutragen? Messen können sie nichts, modellieren ebenso wenig, auch mit der Therapie von Vergiftungen oder der Regulation haben sie nichts zu tun. Und doch haben nicht nur die Naturwissenschaften, sondern auch die Geisteswissenschaften, die Humanities, wie es im angelsächsischen Sprachraum heißt, zum Verständnis von Gift zwar anderes, aber doch einiges beizutragen. Weil Gift die menschliche Existenz angreift, untergräbt oder sogar vernichtet, war es immer schon ein Thema, das Menschen umtrieb.
Gifte sind, wie die Pharmaziehistorikerin Bettina Wahrig feststellt, Grenzobjekte, die sich eindeutiger Zuordnung entziehen. Sie sind nicht nur physische, sondern auch metaphysische Objekte, die nicht nur eine wichtige Rolle in der Pharmakologie spielen, sondern auch in der Ökologie, der Theologie, der Philosophie, der Rhetorik und in der Rechtswissenschaft. Das Nachdenken über Gifte muss daher nicht notwendigerweise im Gewand toxikologischer Untersuchungen daherkommen, die das Gift materialistisch deuten und quantitativ vereindeutigen. Es gibt auch eine philosophische Toxikologie, deren Methoden nicht der Tierversuch oder die chemische Analyse, sondern die Phänomenologie und die Begriffs- und Bildgeschichte sind.
Diese philosophische Toxikologie lässt das Gift in das Denken eindringen, sie akzeptiert den Biss der Schlange und fragt, was sich am Phänomen des Gifts über Mensch und Welt, über Tod und Teufel lernen lässt. Was meinen wir eigentlich mit dem Wort »Gift«? Lässt man diese Frage einmal unter die Haut, zeigt sich, dass es im Wesentlichen zwei Formen des Giftdenkens gibt, ein dualistisches und ein relationales, die beide bis heute relevant sind.
Die Schlange als Metapher für Gift
Beginnen wir mit einer Geschichte, einer Legende. Als der Evangelist Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, in Ephesos das Heiligtum der Artemis betrat, forderte ihn der Priester auf, der Göttin zu opfern, was Johannes natürlich verweigerte. Daraufhin holte der Priester einen Kelch mit Gift, das zuvor schon zwei verurteilte Verbrecher umgebracht hatte, und forderte Johannes auf, davon zu trinken. Doch dieser schlug ein Kreuz über dem Kelch, daraufhin entwich das Gift als Schlange, und Johannes trank die Flüssigkeit, ohne Schaden zu nehmen. Daraufhin bekehrte sich der Priester zum christlichen Glauben, und auch der Tempel stürzte wenig später ein.
Bemerkenswert an dieser Geschichte ist nicht nur die Vorstellung, dass ein Gift durch eine Segensgeste unschädlich gemacht werden kann – was wiederum voraussetzt, dass Gifte als das Werk böser Mächte und letztlich des Satans aufzufassen wären –, sondern auch die Identifikation von Gift und Schlange. In Mitteleuropa ist das Risiko, von einer giftigen Schlange gebissen zu werden, minimal. Hier gibt es insgesamt nur wenige giftige Arten; die gefährlichste, die Kreuzotter, ist so selten geworden, dass Bisse, wenn überhaupt, nur ein, zweimal im Jahr vorkommen und zumeist erfolgreich behandelt werden können.
In wärmeren Gegenden wie an den Schauplätzen der in der Bibel erzählten Geschehnisse, kann man Schlangen, auch sehr giftigen, wesentlich häufiger begegnen. Allein auf dem Gebiet des Staates Israel leben acht Arten, deren Biss für Menschen potenziell tödlich ist. Daher ist es nicht erstaunlich, dass die Schlange schon im Alten Testament prominent vertreten ist. In der Genesis ist die Schlange das einzige Tier, das selbst in Aktion tritt, das einzige Tier, das spricht und auch verspricht. Adam und Eva folgen zu ihrem Unglück oder Glück dem Schlangenrat und werden daraufhin aus dem Paradies verbannt. Die Schlange wird von Gott verflucht, und so die feindliche Beziehung zwischen Mensch und Schlange gestiftet. Und damit beginnt dann auch die eigentliche Menschengeschichte.