Heft 848, Januar 2020

Gott der kleinen Fische

von Robin Detje

Das ganze Jahr 2019 über wurde an dieser Stelle Großstadt als geistige Lebensform gefeiert, als unausweichliche Dauerverunsicherung und Garant von Freiheit und Sicherheit durch Masse. Im Jahr 2020 möchte ich hier eine neue Weltreligion gründen, weil ich glaube, dass nur noch Beten hilft. Das macht Religionsgründung zu einem Akt der Vernunft. Ich hoffe, dass wir den Gründungsprozess bis Dezember gemeinsam abschließen können. Als Gott nominiere ich vorläufig Herbert Wehner, was deutlich macht, dass es bei der Ausübung dieser Religion nicht um Affektkontrolle gehen soll, möglicherweise aber um Triebverzicht.

Was sonst noch neu ist: Wir haben jetzt auch Goldfische. Schleierschwänze, geerbt aus unserer eigenen Kunstinstallation – ursprünglich samt Becken und Tempelnachbildung mit Aufschrift »Japan« aus einem taiwanesischen Restaurant in Berlin-Moabit, das nach zwanzig Jahren schließen musste. Egal. Das sind Rowdys! Nachts graben sie das Aquarium um, reißen die Pflanzen heraus und fressen sie auf. Sie bewegen sich überhaupt nur durchs Wasser, um ihre ganze Umgebung auf Essbarkeit zu überprüfen, und nehmen alles in den Mund.

Reine Naturwesen. In China vor so vielen hundert Jahren gezüchtet, dass es schwer war, sie überhaupt noch über eine Stammform in der Natur zu verankern.

Reine Kulturwesen.

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