Robin Detje im Merkur

28 Artikel von Robin Detje

Warten auf

Während ich diese Kolumne schreibe, hänge ich am Rand des Sommerlochs und baumele mit den Beinen schon darin. Bald wird es mich verschlungen haben. Ein rätselhaftes Phänomen, die Welt fährt angeblich ans Meer, als gäbe es nichts Besseres zu tun, als wäre Sommer noch eine Verheißung und keine Drohung. Katastrophen rasen auf uns zu. Aber man muss jetzt erst mal abwarten. Wenn diese Kolumne erscheint, werden wir gerade wieder aus dem Sommerloch herauskriechen. Wird es sich gelohnt haben, abzuwarten? Das muss man

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Fragebogen

1. Sind Sie sicher, dass Sie die Erhaltung des Menschengeschlechts, wenn Sie und alle ihre Bekannten nicht mehr sind, wirklich interessiert? 2. Warum? Stichworte genügen. 3. Wie oft muss eine bestimmte Hoffnung (zum Beispiel eine politische) sich nicht erfüllen, damit Sie die betreffende Hoffnung aufgeben, und gelingt Ihnen dies, ohne sich sofort eine andere Hoffnung zu machen? 4. Hoffen Sie angesichts der Weltlage: a. auf Vernunft? b. auf ein Wunder? c. dass es weitergeht wie bisher? Max Frisch, Tagebücher

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… und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst

Lieber Polli, ich werde mich jetzt nicht aus dem Fenster stürzen. In Wahrheit ist es ja so: Wir haben uns längst aus dem Fenster gestürzt; jetzt sehen wir plötzlich, wo wir aufschlagen werden. Verzweiflung ist natürlich keine Lösung. Aber vielleicht werden Lösungen auch überschätzt. Du, Polli, bist der Eisbär, der mit Kindern auf eine spielerische Reise in die Arktis gehen will, damit sie das globale Problem des Plastikmülls verstehen und den richtigen Umgang damit lernen. Du siehst sehr lieb aus auf dem

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Einmal ragte Siegfried Unseld turmhoch hinter mir auf

Diese Kolumne beginnt mit einem Gruppenbild von fünf älteren erfolgreichen Jungs, Golden Boys, meist mit Schmerbauch, einer schmaucht eine Pfeife. Danach erleben wir Helmut Kohl nackt in der Sauna, Trigger-Warnung! Anschließend werde ich belegen, dass meine Eltern mich verraten haben. Danach sofort Weltuntergang. Das Gruppenbild ist in der Germanisten-Bubble von @Johannes42 auf Twitter aufgetaucht. Vierundvierzig mal »Gefällt-mir«. Peinlich: Kaum jemand konnte alle Herren benennen, diese kings of the hill,

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Tatendrang, Herzklopfen, Schleimpilz

Das Haus, in dem wir hier in Berlin wohnen, ist ganz streng, aber schlampig aus Stahlbeton gebaut. Den Balkon haben wir mehr nach dem Vorbild »verfallendes Sommerhaus« gestylt, vor allem durch konsequente Vernachlässigung. Seit wir die Vögel füttern (Spatzenbanden, zwei Kohlmeisen, eine zerzauste Tannenmeise), fallen Körner zwischen den Balken der Holzabdeckung hindurch. Spelzen werden zu Humus, Gräser sprießen, sogar ein Pilz. Da unten im Dunkel, wo die Traghölzer modern, muss es ein ganzes Ökosystem geben,

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Gott der kleinen Fische

Das ganze Jahr 2019 über wurde an dieser Stelle Großstadt als geistige Lebensform gefeiert, als unausweichliche Dauerverunsicherung und Garant von Freiheit und Sicherheit durch Masse. Im Jahr 2020 möchte ich hier eine neue Weltreligion gründen, weil ich glaube, dass nur noch Beten hilft. Das macht Religionsgründung zu einem Akt der Vernunft. Ich hoffe, dass wir den Gründungsprozess bis Dezember gemeinsam abschließen können. Als Gott nominiere ich vorläufig Herbert Wehner, was deutlich macht, dass es bei der

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Der Gott der Zwischenräume

Die hier schon angekündigte Gründung einer neuen Weltreligion mit Abgabetermin Ende 2020 geht ihren geordneten Gang, das heißt: Ich bin angemessen verwirrt. Die Stellen »Messias«, »Göttin /Gott« und »Bundesschatzmeister*in« sind noch nicht besetzt, Bewerbungen werden wohlwollend entgegengenommen. Verschiedentlich wurden Bitten an mich herangetragen, für bestimmte Bewerberinnen das Amt »Hohepriesterin« einzurichten; darüber konnte in der Kürze der Zeit leider noch nicht entschieden werden. Der Verlag C.H. Beck

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Spirituelles WiFi

Ich bin in Vietnam, in der Chinatown von Ho Chi Minh City, das früher Saigon hieß und noch immer so genannt wird. Manchmal kann man seinen Aufenthaltsort mitteilen, ohne zu verstehen, wo man ist. 34 Grad im Schatten. Ich sitze in den dunklen Tiefen eines Cafés unter einem Ventilator, an einem brüllenden Strom aus Motorrollern. Wir bereisen Vietnam und sehen abends auf Netflix die Vietnamkriegs-Dokumentation von Ken Burns und Lynn Novick. Sie handelt manchmal von Vietnam und meistens von der Unfähigkeit

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Funktionsstörung

Ich funktioniere nicht richtig. Sonst wäre ich mit der Religionsgründung inzwischen weiter. Die einzige Ansage meiner Auftraggeber für diese Kolumne lautet, dass ich machen soll, was ich will. Ich muss also nicht im eigentlichen Sinne funktionieren. Nicht zu funktionieren, ohne funktionieren zu müssen, ist natürlich verschärft. Neulich bin ich in das eingedrungen, was Leitartikler den »Maschinenraum der Demokratie« nennen würden. Das hat mit meinem Eintritt in die SPD zu tun. Auf Ortsvereinsebene war es, die

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Ein Gastbeitrag von Thukydides

Die Peloponnesier weilten erst wenige Tage in Afrika, als die Epidemie Athen heimsuchte. Zwar wurde berichtet, dass die Krankheit schon einmal manchenorts gewütet habe, unter anderem in der Gegend um Lesnos, nirgends aber konnte man sich an eine ähnliche Geißel, ein derartiges Hinsterben von Menschen erinnern. Und nichts half, weder die Ärzte, die einer völlig unbekannten Situation gegenüber standen, weil sie die Krankheit zum ersten Mal behandelten, und unter denen die Zahl der Opfer sogar am höchsten war,

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Dünger werden

Wir sind vorübergehend am Ende. Weltuntergang? Wahrscheinlich ja. Zu meinen Lebzeiten? Wahrscheinlich ja. Tröstlich: Es ist nur der Untergang unserer Welt. Ich gehe nur noch auf die Straße, wenn es wirklich sein muss. Ich möchte lieber nicht. Das Freizeitverhalten der anderen macht mich zu traurig. »Abstandsregeln einzuhalten ist sehr wichtig, aber wenn wir gerade gemütlich zu zweit nebeneinander gehen und man nicht mehr an uns vorbeikommt, ist das doch sicher nicht so schlimm, was regen die anderen sich so

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Erschleichung des Gefühls der Unendlichkeit

Jetzt ist der Sommer bestimmt da. Wie er wohl aussehen wird? Alles könnte inzwischen passiert sein. Ich schreibe dies im Mai. Lebe ich im Juli noch, oder bin ich tot? Wäre meine Todesursache ein Virus oder die Dummheit der anderen? Oder kommt eine der Krähen, die ich füttere, und hackt mir überraschend doch ein Auge aus? Das wäre dann ein sogenannter Freizeitunfall. Wobei ich im Juli 2019 natürlich genauso hätte tot sein und mir im Mai 2019 genau die gleichen Gedanken darüber hätte machen können; irgendwo um

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Nicht einmal Kapitalismus

Ich stehe unter bestmöglicher Einhaltung der Abstandsregeln in der S-Bahn nach Berlin-Frohnau. Schräg rechts unter mir sitzt ein Mann, etwas älter als ich, Anfang sechzig vielleicht. Akkurate Kurzhaarfrisur. Auf dem Schoß ein neues schwarzes Daypack, gelecktes Mittelmaß. Überhaupt alles mittleres Preissegment, auch das strammsitzende schwarz-weiß-blau karierte Kurzarmhemd – ein Mensch, der sich fest in Ordnung wickelt. Fleischgewordene deutsche Leitkultur. Ein warmer Tag, ein heißer S-Bahn-Waggon, kein

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Das deutsche Volk

Ich bin in der sogenannten Heimat, aus der ich mit achtzehn so schnell und so weit geflohen bin, wie es ging (teuflische 8888 Kilometer weit, hat mir ein Online-Entfernungsrechner ausgerechnet). Es ist heiterer geworden dort: Auf dem Feldweg grüßt man einander, anstatt starr zur Seite zu blicken, in den Knick. Die Feld- und Waldlandschaft, in die die Einfamilienhaussiedlung sich drückt, ist kein Ort mehr, an dem man sich vor dem letzten Krieg versteckt, vor dem nächsten Krieg, kein Bunker mehr, in dem

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Träumen Chemtrails von elektrischen Reptilienmenschen?

Die Natur ist eine Drecksau. Und eine dumme Sau dazu, so penetrant, wie sie sich nicht einfügen will in das Bild, das wir uns von ihr machen, in ihrer Widerständigkeit gegen das Idyllische. Horrorfilme zeichnen ein wirklichkeitsnäheres Bild der Natur als Heinz Sielmann oder Instagram, wo man auffällig selten Bilder von Tod und Verwesung findet. Ich hasse die Natur. Zwei meiner Goldfischkinder sind verendet, einfach so, im fröhlichen Gewusel ihres Schwarms. Dabei hatte ich ihr natürliches Umfeld so gut unter

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Nicht

Ich habe große Sehnsucht, diese Kolumne nicht zu schreiben. Was nicht bedeutet, dass ich sie nicht schreiben möchte. Ich würde sie nur einfach gern im Zustand des Nichtschreibens schreiben. Ich würde sie gern liefern, ohne sie geschrieben zu haben. Ohne tätig werden zu müssen. Ich würde diese meine vorletzte Kolumne gern geschehen lassen, anstrengungslos, als Übung vor meiner letzten Kolumne, bei der es nur noch darum gehen kann, sich dem Nichts zu stellen, der Leere. Aber nicht indem man sich ihr stellt, im

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Die Krähe

Das mit meiner Krähe hat im Februar angefangen. Ich habe eine halbe Walnuss aufs Fensterbrett gelegt. Nach ein paar Stunden war sie weg; stattdessen fand ich dort eine kleine graue Plastikscherbe. Das fand ich übertrieben. Ich kannte die Geschichten von Krähen, die Menschen Geschenke machen. Aber beim ersten Mal – das ging mir zu schnell. Andererseits ist mir bis heute keine andere Möglichkeit eingefallen, wie dieses Stück Plastik gerade in diesem Augenblick dort hingelangt sein könnte. Am nächsten

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