Nicht einmal Kapitalismus
von Robin DetjeIch stehe unter bestmöglicher Einhaltung der Abstandsregeln in der S-Bahn nach Berlin-Frohnau. Schräg rechts unter mir sitzt ein Mann, etwas älter als ich, Anfang sechzig vielleicht. Akkurate Kurzhaarfrisur. Auf dem Schoß ein neues schwarzes Daypack, gelecktes Mittelmaß. Überhaupt alles mittleres Preissegment, auch das strammsitzende schwarz-weiß-blau karierte Kurzarmhemd – ein Mensch, der sich fest in Ordnung wickelt. Fleischgewordene deutsche Leitkultur.
Ein warmer Tag, ein heißer S-Bahn-Waggon, kein Schweißtropfen. Deodorant aus Flüssigbeton. Offensive Makellosigkeit. Der Mann prüft ab und zu den Sitz seiner Gesichtsmaske und liest Nietzsche. Der Wille zur Macht.
Wir steigen gemeinsam aus, am Bahnhof Waidmannslust. Das heißt: Er steigt selbstverständlich vor mir aus. Er steigt aus, ohne die Gegenwart anderer Menschen überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Vielleicht ist so eine S-Bahn-Fahrt für ihn ein furchterregender Vorgang – ihm gegenüber hatte ein Penner gesessen, halb über ihm hatte ich gestanden –, den er nur übersteht, indem er sich ganz in den Willen zur Macht versenkt (Kröner-Ausgabe, wahrscheinlich gebraucht gekauft, Ebay oder Medimops). Uns nicht zu beachten ist sein Privileg. Beim Aussteigen genießt er es voll und ganz. Dann ist er weg, und ich gehe zu OBI.
Das ist eigentlich meine Grunderfahrung der Corona-Krise (Welle 1): auf triumphierende Weise nicht wahrgenommen zu werden. Freiheit war auf der Corona-Straße vor allem die Freiheit, sich selbst nicht als Teil einer Gemeinschaft zu verstehen.
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