Heft 912, Mai 2025

Eine Reise

von Robin Detje

Ich muss eine Reise antreten. Der Zeitpunkt ist denkbar schlecht. Vor Kurzem hat es beunruhigende politische Entwicklungen gegeben. Zuhause würde ich mich sicherer fühlen, aber für mich hängt viel von dieser Reise ab. Ich kann sie nicht absagen.

Am Tag vor der Fahrt sitzt im Café unter meinem Fenster ein Mann. Er erzählt einem anderen Mann mit ruhiger hoher Stimme, wie etwas Bestimmtes gelaufen ist. Es geht um die internen Abläufe einer Firma, und der Mann erklärt dem anderen, vermutlich einem Kollegen, dass er selbst alles richtig gemacht hat und ihm die Hände gebunden waren.

Ich werfe ein paar Kleidungsstücke in meinen kleinen Koffer, und immer wenn ich wieder ans Fenster komme, höre ich diesen Mann. Ich mache mir etwas zu essen, und eine halbe Stunde später sitzt er immer noch dort und redet in seinem Singsang über Dinge, die sich nicht ändern lassen. Ich habe Angst, dass er immer noch dort sitzt und sich rechtfertigt, wenn ich wiederkomme.

Am Morgen darauf nehme ich die Tram zum Hauptbahnhof. Neben mir drängeln sich Männergruppen, die das Wochenende über durchgesoffen haben und noch nicht wieder nüchtern sind. Es ist unnatürlich heiß, aber es ist jetzt schon so lange unnatürlich heiß, dass man es natürlich nennen muss. Die Reise wird acht Stunden dauern, sie führt mich in ein Nachbarland. Man hat mir ein Ticket für die Erste Klasse geschickt, und im ICE richte ich mich auf einem ungewohnt eckigen Sitz am Gang ein. Der Waggon wird von zwei Kindern beherrscht, die mit ihren Eltern einen Vierertisch besetzt haben und sich von dort aus mit all ihren Wünschen und Bedürfnissen ausbreiten. Ich kann nur warten, dass sie müde werden.

Die Landschaft vor dem Fenster ist flach und öde. Die Bäume sind Bäume, die Felder sind Felder, die wenigen Häuser sind Häuser aus Ziegeln. Die Windräder drehen sich langsam. Auf dem Gangplatz schräg vor mir sitzt ein junger Mann mit blonden Locken vor einem Laptop. Auf seinem Bildschirm sehe ich vertrauliche Dokumente eines großen internationalen Wirtschaftsprüfungsunternehmens. Eines davon betrachtet der Mann länger, dann zieht er sein Handy aus der Tasche und ruft jemanden an: Er brauche noch eine klitzekleine Information, dann werde alles ganz schnell laufen.

Nach der Ausfahrt aus dem Bahnhof einer besonders niederschmetternden Stadt aus Nazi-Fabrikgebäuden wird die Landschaft irgendwann weicher und wellt sich. Über hohen sattgrünen Bäumen bauschen sich bombastische Gewitterwolken, und wenn der Zug in die Kurve geht, öffnen sich überraschende Blicke in kleine Schluchten, auf schmale Flüsse.

Dann bleibt der Zug auf freier Strecke stehen. Vor meinem Fenster ergeben bewaldete Hügel sich in ein Tal hinein, unten sehe ich eine Fabrik, dahinter die Straße, die in den Ort führt, und die Kirche. Alles ganz dicht beieinander, eine klare stille Ordnung.

Ich werfe einen Blick über den Gang. Der Mann von dem großen internationalen Wirtschaftsprüfungsunternehmen sieht sich auf seinem Bildschirm jetzt Fotos von sich selbst mit nacktem Oberkörper an. Der Oberkörper ist durchtrainiert. Ich lasse mich treiben, aus dem Fenster, über die Fabrik hinweg, zur Kirche hin, in die Gastwirtschaft.

Ich bin im Hinterzimmer. Dort stehen noch die fünfzig Jahre alten Möbel aus Holz. In der Hitze vor den Fenstern sehe ich eine Reihe von SUVs, schwarz, grau, silber.

Im Raum verteilt sitzen oder stehen fünf Männer. Sie halten Abstand voneinander. Das Licht ist hart und hell. Auf einem der Tische stehen drei Flaschen klarer Schnaps. Zwei sind schon leer, in einer sind noch zwei Finger breit. Alle haben ihre Schnapsgläser in der Hand.

Die Männer sind vielleicht zwischen vierzig und sechzig Jahre alt. Ihre Kleidung ist nicht billig und gleichzeitig unauffällig. So, dass ihnen niemand vorwerfen kann, mit etwas angeben zu wollen. Karierte Hemden.

Hinten lehnt sich einer der Jüngeren mit seiner Stuhllehne so an die Wand, dass die vorderen Beine des Stuhls in der Luft hängen. Man bekommt Angst, dass er wegrutscht und auf den Boden kracht.

Am anderen Ende des Raums, an der Tür, steht ein Älterer. Das Gespräch findet zwischen diesen beiden statt. Von den anderen hört man gelegentlich ein beschwichtigendes Grunzen, ein »Jetzt ist aber gut« oder ein »Das bringt uns doch nicht weiter«. Jeder ihrer Einwürfe macht die beiden anderen Männer noch wütender.

»Dem Gerd verkaufe ich das Land nicht«, sagt der Jüngere.

»Wir brauchen den Supermarkt«, sagt der Ältere.

»Der Gerd kriegt überhaupt nichts von mir.«

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