Heft 915, August 2025

Recherche

von Susanne Neuffer

Das ist nichts Schlimmes, sagte der Arzt.

Das wäre doch ein brauchbarer Anfangssatz, so einer wie Aujourd’hui maman est morte oder Longtemps je me suis couché de bonne heure. Um gleich mal klar zu machen, dass hier die Sprache des bereisten Landes eine gewisse Rolle spielt.

Er sagte: »Rien de grave. Man kann es einmal im Leben haben oder zweimal oder öfter. Es geht vorüber.«

Sie saß auf dem Hospitalbett und versuchte, den Arzt und die Medizinstudentin (eine schmale, entschlossene Juliette) durch ein Verhalten zu beeindrucken, das in älteren Texten »kregel« genannt würde. Sie glänzte mit aus der Tiefe aufschießenden idiomatischen Wendungen, argumentierte, gab präzise Antworten – so schien es ihr –, und das im hinten offenen Klinikhemd über den Jeans, vor sich den Beutel mit den persönlichen Gegenständen, der im Ernstfall den Angehörigen überreicht wird.

Die Erzählung kommt auf dem schmalen Grat zwischen passiert und imaginiert daher. Der Plot kann nicht mehr erfunden, sondern nur noch abgeschwächt oder aufgeblasen werden.

War es nötig, Prousts Recherche mit auf die Reise zu nehmen? Die beiden abgegriffenen ersten Bände der grauen Gesamtausgabe liegen wohl immer noch vorwurfsvoll auf dem Nachttisch der chambre d’hôte bei Mme Leblanc. Was für eine grimmige Ironie: Jetzt ist sie auf der Suche nach der verlorenen Dreiviertelstunde. Aber da geht nichts. Sie wird immer wieder auf einem Stück Baguette herumkauen und schwarzen Kaffee trinken und sich doch an nichts erinnern.

In allen Hospitälern der Welt – sofern sie Strom haben – wird abends das Licht noch gelblicher, als es den ganzen Tag schon war. Die letzten Patienten in der Notaufnahme resignieren auf ihren Rollbetten oder wandern verzweifelt vor ihren Aufbewahrungsboxen auf und ab, voller Angst, sich im falschen Augenblick zu entfernen.

Alle Tests hat sie bestanden, das Labor hat nichts gefunden, auch das Scannen des Kopfes hat nichts gebracht. Das ärztliche Personal hat inzwischen gewechselt und sieht keine Notwendigkeit für weitere Aktionen: Es gibt keine zuverlässig erforschte Ursache, keine Schäden, keine Therapie. Es geht vorüber, wie es der medizinische Name des Phänomens sagt. Transire, hinübergehen – hieß das nicht auch sterben?

Die Dreiviertelstunde am Beginn des Tages bleibt verschwunden, unrekonstruierbar. Ein Stück Leben ist in ein Loch gefallen, das sie sich wie einen ranzigen Beutel aus Marderfell vorstellt.

Es geht um den Zeitraum zwischen dem Abschließen der Zimmertür im Nebengebäude – R. war schon vorausgegangen – und der gemeinsamen Rückkehr an diese Zimmertür, die mit dem Suchen nach dem Schlüssel zusammenfiel. Dazwischen lag angeblich ein in freundlicher Atmosphäre abgelaufenes Frühstück im Haupthaus, gemeinsam mit einem weiteren Paar, das das andere Zimmer bewohnt hatte und nun abreisen würde. Es hatte – so R. – drei Sorten Marmelade gegeben, ausreichend Baguette und Kaffee. Die Gespräche waren angeregt, die Paare saßen einander gegenüber, die Gastgeberin am Kopfende des Tisches. R. erzählte ihr später, sie habe lebhaft geredet, auch übersetzt, es sei um alles Mögliche gegangen, der Mann neben ihr sei ein pensionierter Geschichtslehrer gewesen.

Welcher Mann. Welches Paar. Was für ein Frühstück. Angeblich hat sie etwas gegessen und Unmengen Kaffee getrunken, immer wieder gesagt (in beiden Sprachen), sie müsse viel Kaffee trinken. Angeblich, ein Wort wie ein Angelhaken.

Auf dem Rückweg ins Nebengebäude habe sie mehrmals gefragt, wie lange sie hier bleiben würden.

Da ist ein großes Nichts, aber das Bild vom Loch stimmt nicht, es ist ein flächiges Nichts, wie ein leergeräumter Parkplatz. Im Zimmer stellt sie sich ans Fenster, sieht in den verregneten normannischen Garten mit seinen normannischen Apfelbäumen und sagt: Ich muss mich erst wieder zusammensetzen. Tage später scheint ihr eine nachgeschobene Proust-Lektüre recht zu geben: »… und aus vagen Bildern von Petroleumlampen und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich mein Ich in seinen originalen Zügen wieder zusammen.« Das Bild ist schief, sie weiß, wer sie ist und wo sie ist, es fehlt ihr nur ein Stück Leben, für das sie keine Verantwortung übernehmen kann.

In der Stunde nach dem Ereignis bemüht sie sich um ein kontrolliertes, rationales Auftreten. Da jedoch alle Beteiligten einer Meinung sind, endet der Vormittag in der Notaufnahme des Hospitals der Nachbarstadt.

Da war noch die Sache mit dem Rucksack. Sie hatte ihren kleinen Rucksack, der auf dem Stuhl neben ihr lag, während des Frühstücks nicht erkannt, ihn verleugnet. Er war ihr offenbar sehr fremd geworden. Sie erzählt es dem Arzt, nicht ohne ihm mitzuteilen, das müsse das Gefühl sein, das Sartres Protagonist Roquentin verschiedenen Gegenständen, einem Baum und selbst eigenen Körperteilen gegenüber empfand. Sie ist stolz darauf, dass sie sich in dieser Situation an den Namen Roquentin erinnern kann und hofft, dass der Arzt es merkt. Er lächelt leicht, vielleicht erinnert er sich an seinen Literaturunterricht im Lycée, oder er ist einfach nur höflich.

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