Heft 862, März 2021

2021, dein Gesicht hat Blatternarben

von Hanna Engelmeier

Bis vor kurzem wusste ich nicht, dass es sich bei Pocken und Blattern um einen Namen für dieselbe Krankheit handelt. Während einer kurzen Wikipedia-Safari rund ums Thema Impfen war ich auf diese allgemein vermutlich gut bekannte Tatsache gestoßen, die unter anderem mit einem Foto aus dem Jahr 1973 bebildert wird, das ein Kind aus Bangladesch zeigt, dessen Gesicht und Oberkörper über und über mit Pusteln bedeckt sind. Pocken alias Blattern gelten seit 1980 als ausgerottet. Der Schock, den das Foto auslöst, geht einher mit der Erleichterung, luftdicht verpackte Vergangenheit zu betrachten.

Auf Blattern war ich zuletzt in einem Ratgeber aus dem Jahr 1848 gestoßen. Otto Friedrich Rammler’s Universal-Briefsteller bietet Musterbriefe zu allen Gelegenheiten an, eine davon ist die Trostbedürftigkeit einer Mutter, deren Tochter an Blattern verstorben ist. Der Brief bezog sich mehr auf den schrecklichen Verlust als auf die vermutlich nicht weniger schreckliche Zeit davor, von der ich mir zu diesem Zeitpunkt nur eine ungenaue Vorstellung machen konnte. Der Ekel beim Anblick des Bilds des an Pocken erkrankten Kinds war meine intensivste und eigentümlichste körperliche Erfahrung seit langem. Nun wusste ich es. Die Haarwurzeln in meiner Kopfhaut schienen zu brennen, und mir war, als würde sich jedes Haar einzeln aufrichten, es juckte überall, und wie in einem stetigen Strahl lief ein Pieken meine Wirbelsäule herunter. Ich vergrößerte das Bild und sah genau hin. Mehrmals.

In der Nacht konnte ich in Gedanken an das Kind nicht einschlafen: nicht aus Ekel, sondern aus Empörung darüber, dass es so dargeboten wurde, als namenloser Ekelanlass noch knapp fünfzig Jahre nach seiner Erkrankung, von der ich nicht wusste, wie sie weiter verlaufen war. Hätte man nicht nur seinen Hals, seinen Arm, irgendeinen Teil seines Körpers abbilden können, der nicht zeigte, dass eitrige und verschorfte Pusteln sogar seine Augenlider und Lippen bedeckten und bis an den Scheitel seines feinen Haars reichten? Selbst in Beschwerden über das Bild würde dieses Kind wieder und wieder zum bloßen Objekt und Anlass von allerlei Betrachtungen gemacht. Sein Schicksal ist das einer Fallgeschichte und Warnung. Aber würden nicht alle, die solche Versehrung sehen, nach einer Impfung gegen und Kur für die Krankheit lechzen, die sie ausgelöst hat?

Möchten Sie weiterlesen?

Mit dem Digital-Abo erhalten Sie freien Zugang zum gesamten MERKUR, mit allen Texten von 1947 bis heute. Testen Sie 3 Monate Digital-Abo zum Sonderpreis von nur 9,90 Euro.

Jetzt Probelesen

Weitere Artikel des Autors