Heft 844, September 2019

Bemerkungen zur jüngsten Kanon-Debatte

von Hanna Engelmeier

David Lodges Roman Ortswechsel (Changing Places) handelt von einem britisch-amerikanischen Austauschprogramm für Akademiker, an dem zwei Professoren der Literaturwissenschaft teilnehmen. Der Roman erschien 1975 und spielt 1969, dementsprechend häufig wird »groovy« gesagt. Philip Swallow, der von seiner britischen Heimatuniversität an die amerikanische »State University of Euphoria« entsandt worden ist, führt unter seinen dortigen Kolleginnen und Kollegen ein Partyspiel namens »Demütigung« ein. Alle Teilnehmenden nennen reihum ein berühmtes Buch, das sie nur dem Namen nach kennen. Jeder Gast, der es wirklich gelesen hat, bringt einen Punkt. Wer am Ende die meisten Punkte erhält, gewinnt dadurch, dass er sich selbst am besten gedemütigt hat. Eines Abends in Euphoria findet bei einer Party eine Runde »Demütigung« statt. Ein besonders ehrgeiziger und unbeliebter Anglist geht aufs Ganze und wirft Hamlet in die Runde, womit er mühelos das Spiel gewinnt.1 Dafür wird ihm eine in Aussicht stehende Verstetigung seiner Stelle an der Universität verwehrt, weil die Nachricht die Runde macht, dass es ihm an Grundkenntnissen seines eigenen Faches fehlt.

In dieser Szene sind einige (bei weitem nicht alle) wesentlichen Elemente enthalten, die Kanones literarischer Werke insbesondere in akademischen Kreisen so erfolgreich machen – und die dazu führen, dass die Debatte darum, was in den Kanon gehört und wer das überhaupt zu bestimmen habe, immer wieder aufkommt. Seit letztem Jahr ist sie zurück in den Feuilletons, Seminaren und sozialen Netzwerken; der Begriff des Kanons bezeichnete dabei alles Mögliche, die Diskussion ging um »zeitlos wertvolle Literatur, um Bestenlisten verschiedener Reichweiten, Curricula und das Korpus der Texte […], das einzelne Experten für gut und lesenswert halten«.2

Lodge führt vor, dass die Unkenntnis des Kanons denjenigen, die diese Unkenntnis zugeben (müssen), peinlich ist. Sie haben für die akademischen Anerkennungsökonomien nicht das richtige Kleingeld parat. Üblicherweise schließt die Anerkennung eines Werks als kanonisch sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Welt eine kulturelle Rangzuschreibung ein: Als kanonisch gilt ein Werk, weil es ästhetisch wertvoll ist und dadurch in der Rezeption zu einem wirksamen und bedeutenden Text werden konnte, zu einem, der ins Reich des Schönen, Wahren, Guten gehört – oder bei dem es sich wenigstens lohnt, diese Frage überhaupt zu diskutieren.3

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