Bemerkungen zur jüngsten Kanon-Debatte
von Hanna EngelmeierDavid Lodges Roman Ortswechsel (Changing Places) handelt von einem britisch-amerikanischen Austauschprogramm für Akademiker, an dem zwei Professoren der Literaturwissenschaft teilnehmen. Der Roman erschien 1975 und spielt 1969, dementsprechend häufig wird »groovy« gesagt. Philip Swallow, der von seiner britischen Heimatuniversität an die amerikanische »State University of Euphoria« entsandt worden ist, führt unter seinen dortigen Kolleginnen und Kollegen ein Partyspiel namens »Demütigung« ein. Alle Teilnehmenden nennen reihum ein berühmtes Buch, das sie nur dem Namen nach kennen. Jeder Gast, der es wirklich gelesen hat, bringt einen Punkt. Wer am Ende die meisten Punkte erhält, gewinnt dadurch, dass er sich selbst am besten gedemütigt hat. Eines Abends in Euphoria findet bei einer Party eine Runde »Demütigung« statt. Ein besonders ehrgeiziger und unbeliebter Anglist geht aufs Ganze und wirft Hamlet in die Runde, womit er mühelos das Spiel gewinnt.1 Dafür wird ihm eine in Aussicht stehende Verstetigung seiner Stelle an der Universität verwehrt, weil die Nachricht die Runde macht, dass es ihm an Grundkenntnissen seines eigenen Faches fehlt.
In dieser Szene sind einige (bei weitem nicht alle) wesentlichen Elemente enthalten, die Kanones literarischer Werke insbesondere in akademischen Kreisen so erfolgreich machen – und die dazu führen, dass die Debatte darum, was in den Kanon gehört und wer das überhaupt zu bestimmen habe, immer wieder aufkommt. Seit letztem Jahr ist sie zurück in den Feuilletons, Seminaren und sozialen Netzwerken; der Begriff des Kanons bezeichnete dabei alles Mögliche, die Diskussion ging um »zeitlos wertvolle Literatur, um Bestenlisten verschiedener Reichweiten, Curricula und das Korpus der Texte […], das einzelne Experten für gut und lesenswert halten«.2
Lodge führt vor, dass die Unkenntnis des Kanons denjenigen, die diese Unkenntnis zugeben (müssen), peinlich ist. Sie haben für die akademischen Anerkennungsökonomien nicht das richtige Kleingeld parat. Üblicherweise schließt die Anerkennung eines Werks als kanonisch sowohl innerhalb als auch außerhalb der akademischen Welt eine kulturelle Rangzuschreibung ein: Als kanonisch gilt ein Werk, weil es ästhetisch wertvoll ist und dadurch in der Rezeption zu einem wirksamen und bedeutenden Text werden konnte, zu einem, der ins Reich des Schönen, Wahren, Guten gehört – oder bei dem es sich wenigstens lohnt, diese Frage überhaupt zu diskutieren.3
So weit, so unübersichtlich. Klar ist immerhin, dass das Bekenntnis zur Unkenntnis schlimmstenfalls einen Ausschluss aus der Gruppe der akademischen Peers zur Folge hat – das mag bloße Fiktion sein, aber als Angst ist diese offenbar wirksam genug, um als Disziplinarmaßnahme zu taugen: Besser, man kennt sich aus. Gleichzeitig zeigt das Partyspiel aber auch, dass Kanones als mehr oder weniger stillschweigend vereinbarte Gesprächsgrundlage wirksam sind – oder waren.
Ortswechsel ist vierzig Jahre nach seinem Erscheinen kein taufrischer Text mehr. Aber die Episode von der »Demütigung« taugt in ihrer ganzen Karikaturhaftigkeit immer noch als Illustration für die Sprengkraft der Frage nach dem Kanon. Das lässt die Frage aufkommen, warum die gegenwärtige Kanon-Debatte zwar groovy ist, sich aber argumentativ auch nicht wesentlich über den Stand der Debatten der 1980er Jahre (ff.) hinausbewegt. Vergleicht man die immer wieder neu ausgetauschten Argumente und Positionen, liegt die Vermutung nahe, dass Kanon-Debatten eben jene sind, in denen sich der akademische Literaturbetrieb oder der literarische Akademiebetrieb am besten über sich selbst verständigen kann. Dabei ergibt sich in den seltensten Fällen ein wirklich haltbarer oder gar verbindlicher neuer Kanon, dafür lernt man etwas darüber, wer man sein will.
Letztes Jahr ging es schon wieder los. Dieses Mal mit einem Text von Thomas Kerstan in der Zeit, der unter dem Titel Wir brauchen einen neuen Kanon zwar nicht genau klärte, aus welchen Werken denn der alte Kanon bestanden hatte, aber zumindest keinen Zweifel an dem universalen Anspruch des neuen ließ: »Mein Kanon [richtet] den Blick in die Welt, weil sich in Zeiten der Globalisierung auch ein nationaler Kanon nicht auf nationale Werke beschränken darf.«4 Weshalb dieser Blick eines Einzelnen der Welt so überzeugend vorkommen sollte, dass sie seinen Vorschlag zu übernehmen bereit wäre, stand nicht im Text. Kerstan setzte die Repräsentationskraft seines Kanons einfach voraus: »Und zu guter Letzt spiegelt er aktuelle Entwicklungen wider – die Wiedervereinigung etwa oder die Einwanderung türkischer Arbeitsmigranten und russlanddeutscher Spätaussiedler, den digitalen Wandel und mit ihm die weltweite Vernetzung. Wenn ein Kanon ausdrücken soll, wer ›wir‹ sind, muss ein moderner Kanon den Wandel des ›wir‹ auch selbst vollziehen. Er muss vielfältig sein und demokratisch. So wie unser Land.« Einhundert Werke, darunter neun von Frauen, suchte Kerstan nach diesen Voraussetzungen aus.
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