Heft 863, April 2021

Hier müssen Menschen sein

von Hanna Engelmeier

In der Kriegsgefangenschaft bei den Engländern habe er seinen Geruchssinn verloren. Mein Großvater sei so stark erkältet gewesen – im Winter 1945? Ich weiß es nicht mehr –, dass er in Ermangelung eines Taschentuchs eine leere Konservenbüchse genutzt habe, um sich zu schnäuzen. So lange ich ihn kannte, roch mein Großvater selbst nach CD-Seife, Brisk-Haarcreme und altem Mann. Es war für mich nicht vorstellbar, dass er all diese verschiedenen Düfte, die vor allem als Nachweis von Sauberkeit und Pflege dienten, nicht selbst wahrnehmen konnte. Ich fragte nicht danach, ob er seinen Geruchssinn vermisste oder an welche Gerüche aus der Zeit vor der Konservenbüchse er sich besonders gern oder ungern erinnerte. Ich fragte auch nicht nach der Herkunft der Konservenbüchse und dem genauen Weg in die Kriegsgefangenschaft. Ich fand den Verlust eines Sinnes nicht besonders erstaunlich, weil ich ihn dem Alter zurechnete: In so einem Leben passiert halt einiges, die Konservenbüchse war Teil einer normalen Erinnerung.

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