Heft 874, März 2022

Blümchenkleid und Prügelhose

von Hanna Engelmeier

Wenn man einem Schlag nicht ausweichen kann oder ihn sogar zu Trainingszwecken auffangen will, ist es gut, die Bauchmuskeln anzuspannen. Ein fester Stand kommt aus der Mitte des Körpers, und je nachdem, wie viel Angst man vor dem Auftreffen der behandschuhten Faust auf den eigenen, zum Schutz erhobenen Armen und Fäusten hat, spürt man auch ein Ziehen genau in der Mitte des Bauches, von da aus, wo das Zwerchfell ist.

Solange es noch möglich war, ging ich jeden Mittwochabend zu einem Boxkurs, bei dem man nur den Aufwärmteil und die Übungen an Pratzen absolviert, die zu einem vollwertigen Training gehören. Gut genug für mich: Schattenboxen, Laufen, Seilspringen und die Abfolge von Jabs, Uppercuts, linken Haken, rechten Haken mit einem Trainingspartner unendlich oft wiederholen. Meine pinken Bandagen, die ich mir Mal um Mal so stolz um die Handgelenke gewickelt hatte, liegen in einer der untersten Schubladen meiner Kommode. Die Handschuhe ruhen neben der Schmutzwäsche.

Das fiel mir erst wieder ein, als ich in der Ringbahn sitzend den 1996er Hit Herz an Herz von Blümchen hörte. Nachdem die Sängerin mit dem zartestmöglichen Schmelz, den eine Mädchenstimme jener Tage aufzuweisen hatte, die Verse »Herz an Herz, Tag und Nacht || Immerzu daran gedacht || Bist du auch so verliebt wie ich« intoniert hat, setzen 180 bpm ein. Das Beat-Gekloppe wird immer nur dann unterbrochen, wenn im Verlauf der 3:47 Minuten, die das Stück dauert, wieder Zeit für den Schmelz der Stimme von Jasmin Wagner ist. Der Stumpfsinn des Stücks und die Vergeblichkeit der darin formulierten Frage rührten mich, lange hatte ich weder an diese Musik noch an alles, was sich damit verbindet, gedacht (Geburtstagsparty im Keller von Sabines Eltern oder im Wohnzimmer bei Antje, Klassenfahrt nach Nottuln, Stunden allein im Bad vor dem Spiegel bei dem Versuch, Blümchens Make-Up zu rekonstruieren).

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