Heft 868, September 2021

Frau A. sein

von Hanna Engelmeier

Im vergangenen Dezember warf ich eine kleine Flasche Handdesinfektionsgel gegen das Fenster der Nachbarin im ersten Stock. Es war spätabends an einem Dienstag. Zuvor hatte ich vergeblich versucht, die Tür des Hauses aufzuschließen, in dem ich während meiner Arbeitswochen in Essen wohne. Seit März 2020 war ich kaum je dort gewesen, sondern saß in meinem Berliner Arbeitszimmer fest. Entgangen war mir so eine Wurfsendung der Hausverwaltung, die darüber informierte, dass das Haustürschloss gewechselt worden sei, um die ehemalige Mieterin aus dem Souterrain daran zu hindern, wieder ins Haus zu gelangen, aus dem sie nach einer Räumungsklage hatte ausziehen müssen.

In dem Schreiben stand auch, dass man sich insbesondere abends bei jedem Klingeln überlegen solle, ob man öffnen wolle. Wie ich später hörte, war es zu Ruhestörungen durch Frau A. gekommen, und an diesem Abend im Dezember hielten die anderen Hausbewohner, bei denen ich beschämt, aber entschlossen klingelte, mich vermutlich für Frau A. So öffnete niemand, bis die Nachbarin, an deren Fenster ich mein Desinfektionsgelfläschchen geworfen hatte, sich davon überzeugte, wer hier störte. Nachdem ich meine Lage erklärt hatte, ließ sie mich ins Haus.

Der Hausflur war im Gegensatz zu meinem letzten Aufenthalt im Herbst leer. Damals hatten im Eingangsbereich an den Wänden viele überquellende Plastiktüten gestanden, in denen sich Textilien, hauptsächlich Kleidung, befanden, die stark nach länger ungewaschenem Mensch rochen. Möbel und ein kaputter Ventilator waren daneben aufgereiht; »alles von Frau A.«, teilte mir die Hausverwaltung auf Anfrage mit, im Moment werde von ihrem Anwalt eine Unterbringung für sie gesucht, da sie aufgrund ihrer psychischen Probleme dazu selbst nicht in der Lage sei, aber spätestens in drei Monaten sei sie raus.

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