Heft 869, Oktober 2021

Hört die Signale

von Hanna Engelmeier

Auf Alufolie hatte ich nie besonders geachtet. Als ich aber im Sommer 2016 nach mehrmonatiger Abwesenheit nach Berlin-Neukölln zurückkehrte, fiel sie mir auf einmal überall auf. Ich lernte, dass die Unterlage, auf der man Heroin erhitzt, um es zu rauchen oder in eine Spritze zu ziehen, »Blech« heißt und dass Bleche oft aus Alufolie gebaut werden, da sie hitzebeständig und günstig ist. Seitdem ich das wusste, sah ich Alufolie in den U-Bahnhöfen, in den Hauseingängen, in Fahrstühlen.

Ich hatte keine Ahnung, wie verbreitet Heroin in der Gegend ist, dabei hatte ich schon in meinem ersten Berliner Winter eine Frau am Hermannplatz aufgesammelt, die dort bei strengem Frost mit heruntergelassener Hose saß und nicht mehr pinkeln konnte, vielleicht, weil sie ihren Pinkelplan schon vergessen oder weil sie keine Flüssigkeit mehr im Körper hatte. In der Hand hielt sie ein Knäuel Küchenkrepp und darin eine Spritze mit verbogener Nadel. Ich dachte Gutes zu tun in meinem Flehen, sie möge diese Spritze entsorgen: Schauen Sie mal, hier ist doch ein Mülleimer. Flehen ist ein hoffnungsfroher oder verzweifelter oder naiver Akt, in meinem Fall war es wohl einer der letzteren Sorte, gepaart mit jugendlicher Selbstüberschätzung.

Im Sommer vor fünf Jahren sah ich auch das erste Mal Leute, die sich an einem Samstagabend in einem Hauseingang in der Urbanstraße einen Schuss setzten, ein Mann half einem anderen, der ihm seine Venen hinhielt. Ein paar Jahre später fand ich im Treppenhaus des Parkhauses bei Karstadt Hermannplatz eine halbnackte und offenbar stark berauschte Frau, deren Haut an vielen Stellen bis aufs Blut aufgekratzt war. Sie lag weggetreten vor einer Brandschutztür. Stark juckende Haut sei ein Symptom von schwerer Heroinsucht, erklärte mir eine Freundin kurze Zeit später bei einer der vielen Gelegenheiten, bei denen ich versuchte, meine Erfahrung in eine Geschichte zu schrumpfen. Wenige Stunden nachdem ich einen Mitarbeiter des Sportstudios, das sich im selben Gebäude wie Karstadt befindet und zu dem ich unterwegs war, um Hilfe für die Frau gebeten hatte, lief sie schon wieder bettelnd durch den nächsten U-Bahnhof.

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