Heft 906, November 2024

Literaturkolumne

Adam Phillips’ psychoanalytische Essayistik von Hanna Engelmeier

Adam Phillips’ psychoanalytische Essayistik

0.

Einer der ersten Sätze auf Italienisch, die mich die App Duolingo üben ließ, lautete: »John è piccolo, ma si cura da solo.« (John ist klein, aber er behandelt sich selbst.) In der Frühzeit meines Italienischlernens ließ mich Duolingo immer wieder diesen Satz bilden. Entweder musste ich ihn übersetzen, ins Mikrofon meines Telefons sprechen oder aber die einzelnen Bestandteile des Satzes in die richtige Reihenfolge bringen, nachdem mir eine synthetische Stimme den gesamten Satz auf Italienisch vorgesprochen hatte. Was für ein schönes Beispiel für die unendliche Analyse, dachte ich, hatte es nicht auch Freud so gemeint? Mühevolle, aber lohnende Einsicht in zwei Grundsätze: Ich bin zwar vielleicht (noch immer) klein, aber ich kann mich selbst behandeln.

I.

In On Loss, dem kürzesten Text seines in diesem Januar erschienenen Buches On Giving Up, betont Adam Phillips die unauflösbare Verbindung von Sprache mit Verlust. Sprache sei immer durch Abwesenheit gekennzeichnet. Ein Wort zu benutzen bedeute schließlich immer auch anzuerkennen, dass das durch das Wort Bezeichnete eben nicht da sei; allein durch die Benutzung von Sprache sei Verlust immer schon unser Thema und Medium: »Worte, seien sie auch noch so heiter, tragen immer auch Trauer über das, was sie bezeichnen.«

Für einen Psychoanalytiker und Essayisten unter Umständen keine so gute Nachricht, Worte sind immerhin zentraler Bestandteil seines Geschäftsmodells. Für Adam Phillips bedeutet der Verweis auf die Trauer als ewiger Begleitumstand der Sprache allerdings nicht, dass ihre Benutzung immer nur mit Leichenbittermiene erfolgen könne. Im Gegenteil. Phillips ist neben vielen anderen Dingen und unter anderem Ironiker, den die Feststellung eines konstitutiven Defizits seines wichtigsten Mediums eher erheitert.

Wie all die anderen großen, aber eher schwierigen Gefühle, über die Phillips seit über dreißig Jahren und von der deutschen Öffentlichkeit nicht mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht schreibt, ist Trauer für ihn ein emotionaler Zustand, den man vor allem als eine Einladung ernst nehmen sollte, ihn zum gegebenen Zeitpunkt hinter sich zu lassen. Prototypisch ist dafür die Art und Weise, in der er in On Loss darüber nachdenkt, wie seinem Thema, dem Verlust, seine besondere Schwere, vielleicht sogar kulturelle Dignität entzogen werden könnte. Wie könnte man, so fragt Phillips, zu einer Neubeschreibung von Verlust kommen, in der dieser zwar nicht mit unangebrachter Heiterkeit behandelt wird, aber eher als eine Erfahrung, die so grundlegend und verbindend ist, dass ihr Potential dazu, Angst und Schrecken zu verbreiten, radikal geschrumpft wird?

Phillips gibt keine Antwort darauf, wie genau diese Neubeschreibung im Einzelfall klingen könnte, aber er macht ein Angebot dazu, in welcher Weise sich der Gedanke an Verlust, der unausweichlich ist, verändern könnte, wenn man ihn nicht mehr als Katastrophe, sondern allgemeine Grunderfahrung betrachtet. Das Nachdenken darüber träte an die Stelle eines ängstlichen Ausweichens und könne sich dann in eine Art Lampenfieber verwandeln, so Phillips. Der verzweifelte Ruf um Hilfe weicht einer eher nüchternen Selbstbefragung: Und was mache ich dann?

II.

In meiner Erinnerung handelte Freuds Aufsatz Die endliche und die unendliche Analyse unter anderem davon, dass sich nach dem Ende einer psychoanalytischen Kur die Analysandin oder der Analysand eben in eine unendliche Analyse mit sich selbst begeben könne, ausgerüstet mit den wichtigsten Einsichten in die eigene Biografie und dem passenden Umgang mit den darin herangezüchteten Neurosen und Grundkonflikten. Die unendliche Analyse, so hatte ich es mir gemerkt, sei so eine Art wilde Analyse, eine Laienanalyse (für die Freud nur eingeschränkt zu haben war), für die man nur sich selbst (und vielleicht ein Sofa) brauche. Wie schön, so dachte ich, irgendwann ist es auch mal gut gewesen, der Analysand erhebt sich vom Sofa, auferstanden aus Ruinen und einer Zukunft zugewandt, in der er sein eigener Analytiker ist.

Während das möglicherweise der Fall ist, steht im Text aber etwas anders. In Die endliche und die unendliche Analyse beschäftigt sich Freud mit der Frage, ob die psychoanalytische Kur beschleunigt werden könne und zu welchem Zeitpunkt sie als beendet betrachtet werden kann. »Die Analyse soll die für die Ichfunktionen günstigsten psychologischen Bedingungen herstellen«, hält er als Ziel fest, das zum Ende einer Analyse erreicht sein solle, »damit wäre ihre Aufgabe erledigt.« Ein voraussetzungsvoller Satz: Vorläufig bleibt festzuhalten, dass dabei nicht daran gedacht ist, »alle menschlichen Eigenarten zugunsten einer schematischen Normalität abzuschleifen oder gar zu fordern, daß der ›gründlich Analysierte‹ keine Leidenschaften verspüren und keine inneren Konflikte entwickeln dürfe.«

Das gilt schließlich auch für die Analytiker selbst, die »Personen [sind], die eine bestimmte Kunst auszuüben gelernt haben und daneben Menschen sein dürfen wie auch andere«. Um sich in die Lage zur Ausübung dieser Kunst zu versetzen, ist laut Freud eine Eigenanalyse notwendig – der er sich auch selbst unterzogen hatte, wie vielfach von ihm selbst und anderen erzählt und analysiert worden ist.

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