Heft 901, Juni 2024

Literaturkolumne

Kaum auszudenken von Hanna Engelmeier

Kaum auszudenken

Es gibt in Berlin exakt 438 Cafés, die dafür in Frage kommen, ein Vorgespräch für eine Buchvorstellung zu führen, aber wir haben uns in der Caféteria der Akademie der Künste am Pariser Platz getroffen (überteuert, zugig), so konnten wir vorher noch die Ausstellung von Gundula Schulze Eldowy und Robert Frank anschauen (Schulze Eldowy natürlich interessanter). Das spielte nur insofern eine Rolle, als wir im Gespräch schnell zum Wesentlichen kommen mussten, weil nicht mehr so viel Zeit bis zum nächsten Termin von Frank Witzel blieb, dessen neues Buch Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts gerade erschienen war.

Das Wesentliche führte er ganz dezent ein, indem er auf eine Rezension verwies, die zum Vorläuferprojekt des Buchs vor knapp einem Jahr in der Süddeutschen Zeitung erschienen war. Der ehemalige Verleger des Hanser Verlags, Michael Krüger, selbst Autor, Impresario und insofern literaturbetriebliche Entität ersten Ranges, hatte darin den Essay Von aufgegebenen Autoren. 100 Vergessene, Verkannte, Verschollene begeistert besprochen und als Gegenkanon behandelt, der von einem, der sich aber wirklich auskennt und vor dem keine Antiquariatskiste, kein Bücherschrank, kein Koffer auf irgendeinem Dachboden, kein Archiv sicher ist, in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen wurde. Er frage sich immer noch, sagte Witzel, ob so ein eminenter Fachmann wie Michael Krüger nicht bemerkt habe, dass ungefähr 90 Prozent der Autorinnen und Autoren, die nun auch in Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts in kurzen Biobibliografien vorgestellt werden, frei erfunden seien. Seine Rezension lasse das in der Schwebe.

Wie außerordentlich höflich kann man sein? Durch die Erzählung dieser Anekdote, mit der Witzel den erfolgreichen Bluff als Kernidee des Buchs darlegte, verschaffte er mir Gelegenheit für eine kurze Umbaupause im Kopf. Ja, ganz erstaunlich, erwiderte ich großzügig, dabei kennt sich Michael Krüger doch wirklich gut aus, wäre ja toll, wenn das Konzept des Buchs so aufgegangen ist. Schnell ging ich im Kopf meine vorbereiteten Fragen und Themen für die Lesungsvorbereitung durch, doch, das würde gehen, irgendwas zum Verhältnis fiktionales und faktuales Schreiben würde ich mir auf die Schnelle schon noch ausdenken können.

Kurze Zeit später sahen wir Michael Krüger ein paar Meter weiter telefonierend durchs Foyer der Akademie gehen, als sei ein Geist herbeigerufen worden. Nach Ende seines Telefonats trat er heran und strich zur Begrüßung Witzel über die Glatze. Stimmt das? Rückblickend kommt es mir zumindest plausibel, wenn auch unwahrscheinlich vor. Ebenso kann es sein, dass mir meine Erinnerung den Satz »Wir haben gerade über Sie gesprochen« ins Gedächtnis halluziniert, jedenfalls weiß ich nicht mehr, wer von uns ihn gesagt haben könnte. Ein Austausch zwischen den beiden Männern folgte, dessen Inhalt in dieser Zeitschrift natürlich an genau der richtigen Stelle wäre, aber aus Diskretion ausgespart bleiben soll.

Dezent beschwieg ich auch, was Krüger und mich verband: Durch den Namen des Verfassers von Meine Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts in Sicherheit gewiegt, hatten wir beide offenbar nicht einmal Google bemüht, um nachzuschauen, wie es sich zum Beispiel mit der sagenhaften »Schreibschule für junge Frauen« verhielte, die 1952 »in einem alten Bauernhof bei Blaubeuren« ihren Betrieb aufnahm und heute bedauerlicher-, aber doch bezeichnenderweise vergessene Autorinnen wie »Dorothea Remmle, geb. am 15.10.1939 … gest. am 28.5.1958 dortselbst« ausbildete – sollte es sie gegeben haben, kennt ihr Werk zumindest der Katalog der Deutschen Nationalbibliothek nicht, in dem doch jedes Druckerzeugnis aus Deutschland oder über Deutschland archiviert wird, das seit 1913 in einer Auflage von über fünfundzwanzig Stück erschienen ist.

Witzels Literaturgeschichte, die auf 230 Seiten nach einem assoziativen Prinzip eine Biografie an die andere reiht, bietet in einem ihrer zwei Tafelteile sogar ein Foto von Remmle an, auf dem man sie angeblich mit anderen Schülerinnen des Blaubeurer Instituts bei der Beerdigung ihres Mentors »Diethard Ockel, geb. am 16.8.1901 in Beuren, gest. am 28.5.1957 in Blaubeuren« betrachten kann. Aus der bei Witzel angegebenen Bibliografie Remmles: »Gnadenlose Nacht (1932), Sendungsbewußtsein (1935), Ariadnes verwirrter Faden (1952)«. Michael Krüger verabschiedete sich liebenswürdig und mutmaßlich unaufgeklärt.

Wenn Sie nun Namen wie Diethard Ockel lesen und Titel wie Ariadnes verwirrter Faden und sich fragen, wie man das für bare Münze nehmen kann, dann sei einerseits darauf verwiesen, dass Michael Krüger und ich vielleicht einfach die schöneren Seelen als Sie sind und Interesse daran haben, erst einmal anzunehmen, dass Frank Witzel uns die Wahrheit sagen will (will er ja auch, glaube ich). Andererseits ist es eben nicht unplausibel, dass es einmal eine Schreibschule für junge Frauen in Blaubeuren gegeben hat, nach der heute kein Hahn mehr kräht, und dass es Autorinnen gab, die Dorothea Remmle hießen und fantastische Bücher geschrieben haben, deren früher Tod und schwache Kanonisierung jedoch dazu führt, dass die Kenntnis ihres Werkes eine der Wissenslücken darstellt, über deren Beschaffenheit oder Zustandekommen man nur langsam oder oft gar nicht aufgeklärt wird.

Zuletzt hat Nicole Seifert einiges dafür getan, dem entgegenzuwirken. Vor drei Jahren fasste sie in dem Buch FrauenLiteratur ihre Hauptkritik an einer männlichen Literaturgeschichte so zusammen: »Die Großkritiker wollen in ihrem Kanon keinen Rabatt geben, keinen ermäßigten Tarif, und merken dabei nicht, dass sie genau das tun: Freifahrtscheine vergeben für das, was schon immer dabei war. Die Werke von Autorinnen seien eben, soweit es sie überhaupt gegeben habe, bedauerlicherweise nicht ›stilprägend, typisch, populär‹ gewesen. Im Kern werden zwei Behauptungen bemüht: 1. Frauen hätten kaum geschrieben. 2. Was sie geschrieben haben, sei leider von mangelhafter Qualität und könne nicht mithalten mit den Werken der Männer. Beides ist falsch.«

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