Literaturkolumne
Neues über die Mitte des Lebens von Hanna EngelmeierNeues über die Mitte des Lebens
Der Soziologe Erving Goffman beschrieb in seiner Studie Stigma die Sorge, die ein stigmatisiertes Individuum stets umtreibe, dass sein Anderssein für andere »unmittelbar evident« sein könne, dabei sei die Misere, diskreditiert (also schon als stigmatisiert erkannt) zu sein, ebenso zu beachten wie die, möglicherweise überhaupt diskreditierbar zu sein (also potenziell, aber noch nicht allgemein als stigmatisiert erkannt).1
Die Autorin Stefanie de Velasco erinnert sich in ihrem Memoir Heiss an Goffmans Konzept, während sie in der Bibliothek nach Literatur zum Thema Menopause recherchiert.2 Keinesfalls, so schreibt sie, habe sie dabei beobachtet werden wollen, wie sie sich mit dem Thema beschäftigte, zu peinlich das Gefühl, als Betroffene identifiziert zu werden oder auch nur als möglicherweise schon demnächst Betroffene. Warum denn eigentlich? Das fröhliche Enttabuisierungsbuch Darm mit Charme wird doch auch im ÖPNV gelesen. Eventuell muss man es so sagen: Ein unter anderem für Verdauung zuständiges Organ zu haben weist einen als Menschen aus, in den Zustand der Menopause zu geraten als alternde Frau.3
De Velascos Memoir und einige andere im vergangenen Jahr in ganz unterschiedlichen Genres erschienene Bücher wenden sich derzeit dem Versuch zu, die Genese dieses Stigmas zu verstehen, ihren eigenen Umgang damit zu gestalten und es bestenfalls abzubauen. Das ist nicht so einfach, wie sich de Velasco bei ihrem Versuch zeigt, das Gefühl der Stigmatisierung erst einmal zu ergründen und es radikal umzuwenden. Als prominente Figuren, die ihr als erste Vorbilder für eine Lebensphase einfallen, der sie sich selbst nähert, nennt sie Fräulein Rottenmeier und Camilla Parker Bowles: »Schabracken, Fregatten, Spinatwachteln«, denen ein Leben bevorsteht, das ungefähr so abwechslungsreich und interessant ist wie das »Testbild im Fernsehen«. Dabei hätte ihr allein schon am Leben ihrer eigenen Mutter und dem Zusammenfall von deren Wechseljahren mit ihrer Teenagerzeit auffallen können, wie unrichtig diese Annahme ist. Heiss ist auch eine Hommage an das Leben einer unterschätzten Frau und die Neubewertung des schwierigen Liebesverhältnisses zwischen Müttern und Töchtern.
De Velasco widmet sich sowohl der eigenen Ignoranz, die in Spinatwachtel-Assoziationen zum Ausdruck kommt, als auch deren Ersetzung durch neue Konzepte für das mittlere Lebensalter und den Übertritt ins Alter. Die Schwierigkeit, der sie in ihrem Buch nachgeht, besteht in der Feststellung, was zuerst kam: die eigene Ignoranz oder ein armseliges Rollenangebot für alle, die sich weder mit Heidis Gouvernante noch mit Prinz Charles’ Gemahlin identifizieren können oder wollen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge könnte das weltweit eine Mehrheit unter allen potenziell Interessierten sein.
Für diese Gruppe (und auch alle anderen) erschien praktischerweise im vergangenen Mai der neueste Roman der Performancekünstlerin, Regisseurin, Schauspielerin und Autorin Miranda July. All Fours (2024) wird auch bei de Velasco als eines der lang ersehnten, wichtigen kulturellen Artefakte genannt, die in der Lage sein könnten, das Nachdenken über das Leben von Frauen in der zweiten Lebenshälfte zu verändern.
All Fours erzählt die Geschichte einer fünfundvierzigjährigen Performancekünstlerin, die ihrer eigenen Einschätzung nach zwar nur halbwegs berühmt, aber doch so erfolgreich ist, dass sie sich ein Leben ohne Brotjobs in einem behaglichen Heim mit ihrem Mann Harris, einem Musikproduzenten, und ihrem gemeinsamen nonbinären Kind Sam in Los Angeles leisten kann. Als sie eines Tages Tantiemen aus einer ihrer Arbeiten erhält, die zwar erheblich, aber auf ihrem Niveau nicht lebensverändernd sind, entschließt sie sich, mit diesem Geld einen Roadtrip von Los Angeles nach New York zu unternehmen, um dort zum ersten Mal seit längerem etwas Zeit allein zu verbringen. Schon nach einer Stunde Reise wird sie bei einem Halt an einer Tankstelle von einem deutlich jüngeren Servicemitarbeiter namens Davey bedient, dessen Attraktivität ihr derart durch Mark und Bein fährt, dass sie ihre Pläne umwirft, sich in das nächstgelegene schäbige Motel einmietet und dort beginnt, ihrem feuerspeienden Begehren nach diesem Mann nachzugehen und zu versuchen, ihn aus seiner Ehe in ihren Bann zu ziehen.
Zum Einsatz kommen dabei die Umgestaltung ihres Motelzimmers zu einer Art Boudoir (besorgt von der nichtsahnenden Ehefrau ihrer thirst trap, die praktischerweise Dekorateurin ist) und gemeinsame Spaziergänge, verbunden mit dem Versuch, über ihr bisher zur Verfügung stehende Verführungsmethoden etwas zu erreichen (das heißt: Reden). Zunächst gelingt es. Es entsteht eine hitzige, auch physische Intimität zwischen ihnen, was eine etwas schwiemelige Beschreibung für das ist, was bei July als gottloses Rummachen für Fortgeschrittene geschildert wird: Solange kein Küssen und keine Genitalien involviert werden, sieht Davey seine Ehe auf beinahe schon anrührende Weise als nicht kompromittiert an. Die erotischen Fantasien der Heldin scheitern daran. Nicht nur, dass ihr Davey versagt, sie in Handlungen zu übersetzen. Er hat auch keine Intentionen, seine Frau zu verlassen, und sie selbst muss zu ihrer Familie zurückkehren. Ihr Herz ist gebrochen.
Nicht zum letzten Mal: July schickt ihre Protagonistin, auf deren fiktionalem Charakter sie beharrt, im zweiten Teil des Romans in eine weitere Liebesgeschichte, in der ihr ein weiteres Mal Erfüllung vorenthalten wird: Dieses Mal jedoch nicht, wie im Fall des schönen Tankwarts, durch die Verweigerung von Sex, sondern durch einen konsumierenden, gleichgültigen Umgang damit. Diesen pflegt die Künstlerin Kris, in die sich die All Fours-Heldin verliebt und daraufhin eine conscious-uncoupling-Phase mit ihrem Ehemann Harris einleitet, auf die Gwyneth Paltrow, die uns mit diesem Konzept gesegnet hat, nur stolz sein könnte.
In der absoluten Zerschmetterung, die auf die erneute Enttäuschung folgt, betrachtet die Protagonistin einmal eine Skulptur einer befreundeten Bildhauerin, die eine Frau ohne Kopf auf allen Vieren zeigt:4 »›Everyone thinks doggy style is so vulnerable,‹ Jordi said, ›but it’s actually the most stable position. Like a table. It’s hard to be knocked down when you’re on all fours.‹«5 Diese den Titel des Buches gewissenhaft aufklärende Stelle ist die in der digitalen Ausgabe des Buches am meisten markierte Stelle. Das Buch endet mit einer Rückkehr in den aufrechten Gang, Druckstellen am Knie, Narben und alles. »Golden light everywhere«, so der letzte Satz, der nun auch den Kreis zu dem auf dem Buchumschlag abgebildeten Sonnenaufgang (oder ist es ein Sonnenuntergang?) schließt.
Es wäre ungenau beschrieben, All Fours einen »Erfolg« zu nennen. Julys zweiter Roman erschien zeitgleich im englischen Original und der deutschen Übersetzung von Stefanie Jacobs,6 begleitet von Berichterstattungen in international beachteten Zeitschriften,7 einer weitläufigen Repräsentation des Buches auf Instagram, sowohl über den Account der Autorin als auch über Tausende Beiträge anderer Accounts, auf denen der in der Ferne verheißungsvoll leuchtende Sonnenaufgang (oder doch: -untergang?) aus der Kachel strahlte. Das Gefühl, über eine geteilte Erfahrung in intimer Form zu kommunizieren, drückte sich dabei in der vielfachen Verwendung von #allfoursgroupchat aus. Ab November 2024 postete July zusätzlich auf ihrem neugegründeten Substack-Kanal Szenen, die es doch nicht in den Roman geschafft hatten, oder auch Beiträge ihrer Leserinnen und Leser, in denen diese ihre Perspektive auf Themen wie nichttraditionelle Ehen schildern, die in All Fours eine zentrale Rolle spielen.8
Die begeisterte Aufnahme des Romans, der neben den skizzierten Plotlinien in jedem Detail gesättigt ist von einer gekonnten Montage all jener Elemente, die derzeit einen ästhetisch informierten und weltanschaulich progressiven Lebensstil kennzeichnen, lässt sich möglicherweise weniger durch das Identifikationspotenzial mit den Lebensumständen und Handlungsspielräumen erklären, die die Hauptfigur besitzt. Sie ist überdurchschnittlich attraktiv, wohlhabend und anderweitig privilegiert, was sie eher als Gegenstand von Neid oder als unerreichbares Vorbild infrage kommen ließe.
Aber ihr Leiden ist real. Neben dem unerfüllten Begehren und Liebeskummer hat July ihrer Figur auch noch ein Trauma mitgegeben: Bei der Geburt ihres Kindes Sam ist bei ihr eine fötal-maternale Blutung eingetreten, an der ihr Kind beinahe gestorben wäre. Auch diese Erfahrung hat sie beinahe in die Knie gezwungen. All Fours bietet eine Mantelerzählung über zahlreiche radikale Transformationen an, die alle Ebenen des Lebens durchdringen. Die Veränderung des eigenen Körpers, der zum ersten Mal in ihrem Leben vielleicht nicht mehr für alle Menschen attraktiv ist (eine Erfahrung, mit der Julys Erzählerin möglicherweise tatsächlich allein dasteht), die Neuordnung der Ehe, ihrer Freundschaften, ihrer sexuellen Orientierung gehören ebenso dazu wie die Auseinandersetzung mit ihrer künstlerischen Arbeit.
Der umfassende Charakter dieser Transformationen macht das Erleben dieser Lebensphase in ihrer literarisierten Form zu einer monströsen Erfahrung, die sich auch bei Stefanie de Velasco in Heiss findet. Als Identifikationsfigur für hormonell bedingt extreme Stimmungswechsel taucht bei ihr Hulk auf, ein Monstrum, das nicht anders kann, als sich bei den nichtigsten Anlässen in ein brüllendes grünes Wesen zu verwandeln, eine Gefahr für sich und andere: »Der Hulk will eigentlich immer weglaufen, aber seine Verwandlung zwingt sich ihm auf.« Die Auseinandersetzung beider Autorinnen mit der Lebensphase, die ihre Bücher behandeln, kann als der Versuch einer Integration der Hulk-Anteile betrachtet werden, die Verwandlung der Angst vor der Metamorphose in eine affirmative Gestaltung des Prozesses: »Er kann nicht anders, und auch ich spürte diese Unausweichlichkeit meiner Verwandlung immer stärker. Ich gab mich ihr hin, mit allen Ängsten und Verheißungen.«
Beide Autorinnen machen in ihrer Darstellung der körperlichen Transformation, die der Menopause bereits vorangeht, keine Gefangenen. Ob man Wert darauf legt, in Heiss über die Veränderung des Menstruationsbluts der Autorin informiert zu werden, wird sich vor allem daran entscheiden, ob man diese Beschreibung als einen ermächtigenden Akt sieht, durch den das, was als abjekt zu betrachten noch immer kulturell fest verankert ist, zu einem körperlichen Vorgang unter anderen wird – was aber erst dann gelingen kann, wenn er so oft beschrieben und in literarischen und nichtfiktionalen Texten Präsenz erhalten hat, dass er nicht mehr durch den Ich-mache-hier-übrigens-was-Radikales-Subtext seinen Sonderstatus eher befestigt als verliert.
In All Fours wird dieser Effekt mit viel Nachdruck angezielt. Eine der Szenen des Romans, die in kaum einer Besprechung und kaum einem Gespräch über das Buch fehlen durfte, schildert den Höhepunkt des Ineinanders von Verlangen, Zurückhaltung und Exzess, in das sich die Erzählerin und Davey begeben. Da sie auf Wunsch von Davey keinen penetrativen Sex haben können, wählen sie andere Wege, in denen sie ihre Körperinnenseiten für die andere Person spürbar machen können. Nachdem Davey über die Hände der Erzählerin gepinkelt hat, sie ihm aber diese Erfahrung gerade nicht ermöglichen kann, entfernt er ihren Tampon. Diese Handlung transzendiert allerdings nicht nur ihre bisherigen sexuellen Erfahrungen, sondern führt ihr etwas Grundsätzliches über ihre Erfahrung des Lebens in einem weiblich interpretierten Körper vor: »I felt close to tears, some combination of shame, excitement, and an unexpected kind of sadness, as if this were coming after a lifetime of neglect. I had been so completely alone with my period all these years.«
Die Beschreibung ihres fast schwärzlichen Menstruationsbluts auf dem Tampon, das eine der späten Runden innerhalb des Grundrhythmus ihres Lebens anzeigt, markiert eine spät, aber nicht zu spät gewonnene Einsicht über die Verschränkung der Verfügbarkeit ihres Körpers für Reproduktion und der fehlenden Sorge anderer genau dafür. Nicht nur in dieser Szene behandelt All Fours die grauenhafte Einsamkeit und Vereinzelung, die es in Julys Darstellung bedeutet, als Mensch im Körper einer Frau zu leben, und die Chancen, die darin bestehen, ein dafür weithin noch immer bestimmendes Kriterium hinter sich zu lassen: schwanger werden zu können.
Während Julys Literarisierung dieses Themas für viele Leserinnen und vermutlich auch einige Leser aufregend und befreiend war, weil es einen Gesprächsanlass bot, um eigene Erfahrungen über Bande zu spielen,9 gibt es auch Gründe dafür, die Fokussierung auf die Menopause in der Auseinandersetzung um das mittlere Lebensalter von Frauen kritisch zu sehen. So geschieht es beispielsweise in Susanne Schmidts Studie Midlife Crisis, die dieses Jahr erschienen ist.10
Diese Studie, die auf der ursprünglich auf Englisch verfassten Dissertation der Wissenschaftshistorikerin beruht, zeichnet die Geschichte eines Konzepts nach, das 1976 von der Journalistin Gail Sheehy in ihrem Buch Passages – Predictable Crises of Adult Life popularisiert wurde. Schmidt geht der verästelten Rezeption dieses Bestsellers auch nach, um zu zeigen, in welcher Weise seit den 1970er Jahren feministische Publizistik zu einem kommerziellen Erfolg werden und feministische Forschung transdisziplinär avancieren konnte.11
Geprägt wurde der Begriff »Midlife Crisis« schon in den fünfziger Jahren durch Elliott Jaques, einen Psychoanalytiker und Unternehmensberater. Die Krise im mittleren Alter, die bei Sheehy als ein universales Phänomen geschildert wurde, das je nach geschlechtsspezifischer Sozialisation sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen und sowohl positive (vor allem bei Frauen) und negative (vor allem bei Männern) Bewertungen erfahren konnte, gerann schnell zu einem Klischee und wurde von Psychologen gekapert, die es sich zwecks Rechtfertigung regressiven männlichen Verhaltens Ü40 zurechtinterpretierten.
Während Sheehy sich insbesondere für Paarbeziehungen und deren Interdependenz zum Sozialen interessierte und dafür qualitative Interviews führte, fokussierte die Forschung zum Thema Altern und den Lebensläufen von Frauen das mittlere Alter vor allem als Einschnitt hinsichtlich der biologischen Reproduktionsfähigkeit.
Schmidts Buch zeigt, auf welche teils haarsträubende Weise ein Prozess, dessen Abschluss von vielen Frauen trotz aller Belastungen als Erleichterung erfahren wurde und wird, fortwährend als negativ beschrieben wurde und wie damit alle anderen lebensweltlichen, sozialen und psychischen Vorgänge, die die Lebensmitte bestimmen mögen, konsequent zurückgedrängt wurden. Dabei spielte aber laut Schmidt auch die wissenschaftliche Fokussierung auf körperliche Veränderungen und biologische Reproduktion, die bis heute ein entscheidendes Thema in Büchern wie All Fours oder Heiss ist, eine entscheidende Rolle: »Hauptgrund für die Vernachlässigung positiver Konzepte in der historischen Forschung zum Thema Geschlecht und mittleres Alter ist die Fokussierung auf die Menopause und damit auf die Beiträge von medizinischen und psychiatrischen Expertinnen und Experten. Reproduktive und klinische Studien konzentrieren sich auf den weiblichen Körper und auf Mutterschaft und stellen die pathologischen, vermeintlich krankhaften Aspekte der mittleren Lebensjahre in den Vordergrund.«
Schmidt entfaltet in ihrem Buch zwar engagiert, jedoch mit ruhiger Hand ein publizistisches und wissenshistorisches Panorama, anhand dessen nachvollziehbar wird, wie es dazu kommen konnte, dass Sheehys Konzept einen Aneignungsprozess durchlief, in dem aus einer Auseinandersetzung mit der Bedeutung verschiedener Lebensphasen in den Biografien von Frauen und Männern grob verkürzt ein Begründungszusammenhang für Rücksichtslosigkeit und Hedonismus der peinlicheren Art bei Männern ab Vierzig gezimmert wurde, in dem ein erheblicher Teil des ursprünglich beobachteten Samples zum Verschwinden gebracht wurde.
Gail Sheehy wird bei Schmidt nicht nur als wichtigste Figur in der Auseinandersetzung mit dem Midlife (auch ohne Crisis) rehabiliert, sondern auch als ein bestimmter Autorinnentyp eingeführt, der zu ihrer Zeit ungefähr so einen guten Ruf genießt wie Fräulein Rottenmeier und Camilla Parker Bowles: die Autorin eines wissenschaftlich fundierten populären Buches, das ein Bestseller wurde und sein zentrales Konzept auch in der sogenannten Normalwissenschaft durchsetzen konnte. Sheehy hatte sich noch dazu herausgenommen, ihre Auseinandersetzung mit den typischen Krisen bestimmter Lebensphasen mit einer Schilderung einer persönlichen Erfahrung zu beginnen.
Passages eröffnet mit einem verstörenden Bericht Sheehys über ihren Einsatz als Reporterin während des nordirischen Blutsonntags 1972. Den psychischen Zusammenbruch, den sie im Anschluss erlebte, führte sie nicht allein auf die Beobachtung extremer Gewalt der britischen Armee gegen Zivilisten zurück. Eine Rückführung auf existenzielle Fragen erlebte sie daran anschließend auch mit Blick auf ihre persönlichen Lebensentscheidungen und Ziele. Die Übersetzung persönlicher Betroffenheit in eine auch allgemein relevante Forschungsfrage war nicht der einzige Punkt, der Passages bei der Aufnahme in der Fachöffentlichkeit zum Nachteil geriet.
Schmidt behandelt in Midlife Crisis dementsprechend nicht allein die Genese und Veränderungen eines Konzepts, das bis heute in einer breiten Öffentlichkeit einflussreich ist, sondern auch die Ungleichbehandlung von Wissensproduktion je nach Geschlecht und institutionellem Prestige. Die Nachteile, die Frauen dabei häufig insbesondere dann entstehen, wenn sie in Teams mit Männern arbeiten, ist von Margaret Rossiter nach der Frauenrechtlerin und Wissenschaftssoziologin Matilda Gage als »Matilda-Effekt« bezeichnet worden, den auch Schmidt für Sheehy in Anschlag bringt. Schon vor der Publikation von Passages war diese unter anderem mit Plagiatsvorwürfen gegenüber ihrer Arbeit konfrontiert, etwa durch den Psychologieprofessor Roger Gould, mit dessen Arbeit sich Sheehy in einem Vorabdruck ihres Buches intensiv auseinandergesetzt hatte.
Neben Gould bringt Schmidt als Gegner der Arbeit Sheehys vor allem die Arbeiten der Psychiater George Vaillant und Daniel Levinson in Stellung. Letzterer führte seit 1968 ein »Male Midlife«-Projekt durch, das Sheehy seit 1973 auch bekannt war. Schmidt arbeitet heraus, wie insbesondere durch diese Arbeiten die Idee der Midlife Crisis als zweite Adoleszenz charakterisiert und entschuldigt wurde: »Die männliche Midlife-Crisis diente [in Daniel Levinsons Projekt] als Entschuldigung dafür, Frau und Familie zu verlassen. Die Metapher der Adoleszenz wurde genutzt, um das Ausbrechen aus der Ehe als einen Akt der ›gänzlichen Selbstbefreiung aus der Mutter-Kind-Beziehung‹ zu rechtfertigen, wie Levinson es in seinem ersten Forschungsbericht ausdrückte. So wichtig die Ehefrau für einen Mann Ende zwanzig oder Anfang dreißig gewesen war, im mittleren Alter sei sie für ihn ›weder unerlässlich noch begehrenswert‹. Der berufliche Erfolg, zu dem die Ehefrau beigetragen hatte, nahm für den inzwischen vierzigjährigen Ehemann einen geringeren Stellenwert ein; mehr noch, die vormals ›besonderen‹ Qualitäten einer Frau galten ihm nun als ›übertrieben kontrollhaft‹, ›erdrückend‹, ›herabsetzend und erniedrigend‹.«
Diese Ergebnisse hatte Levinson durch die Befragung von vierzig Männern erzielt, die bei Projektbeginn zwischen fünfundreißig und vierzig Jahre alt waren, an der Ostküste lebten und beruflich als Manager (zehn Mal), Arbeiter (ebenfalls zehn), Biologen und Schriftsteller tätig waren. Zwei der Schriftsteller waren schwarz, ebenso drei der Arbeiter. Ansonsten handelte es sich, wie allerdings auch in den Untersuchungen Sheehys, ganz überwiegend um eine Studie, die sich der Lebensrealität einer weißen gehobenen Mittelschicht widmete, in der sich ein Bedeutungsverlust männlicher Ernährermodelle auszubreiten begann, dessen Ausläufer weiterhin zu beobachten sind. Es ist keine besonders überraschende, aber doch nicht genug hervorzuhebende Einsicht aus Schmidts Buch, dass es sich auch bei der Entwicklung des Konzepts der Midlife Crisis eigentlich um die Beschreibung einer Ausnahmesituation handelte: die derjenigen, die in materiell einigermaßen bis hervorragend abgesicherten Verhältnissen Gelegenheit hatten, sich mit etwa vierzig Jahren danach zu fragen, was das Leben noch für sie bereithalten könne. Die Situation all jener, die damit ausgelastet sind, den Status quo zu überleben, kann dabei schwerlich eine Rolle spielen.
Schmidt reflektiert diesen Punkt, der ihre These festigt, dass es sich bei der Midlife Crisis um ein »soziales, politisches und ethischen Konzept« handele, das an der »Schnittstelle von Selbst und sozialem Wandel« die temporale Dimension menschlichen Lebens ebenso adressiert wie das »Verhältnis von Möglichkeiten und Grenzen, Erfolg und Versagen«. Dass Letzteres im Erleben persönlicher Krisen als scheinbar unentwirrbares Knäuel von höchstpersönlichen Entscheidungen und deren psychosozialen Bedingungen erscheint, macht das Konzept zu einem so reizvollen Thema – bei dem insbesondere die Literatur Verdichtungen erreichen kann, die das Symptomatische an der gerade aktuellen, möglicherweise sogar angesagten Form von Midlife-Style pointierter charakterisieren, als das in notwendigerweise stärker differenzierenden Forschungsbeiträgen der Fall ist.
Das gilt zumindest für diejenige Literatur, die sich im Dienst des Realismus sieht und für ihre Wirksamkeit auf die identifikatorischen Lektüren ihres Publikums setzt. Einen anderen Weg als die Verfertigung eines möglichst inspirierenden Abbilds einer Wirklichkeit, die sich zum Abgleich mit dem eigenen Leben eignet, gehen die »performativen Erzählungen« von Mara Genschel.12 Der Titel Midlife-Prosa zeigt dabei sowohl ein Thema als auch eine Sprachform an. Nach der Lektüre kann man fragen, ob das Verdienst des Buches nicht vor allem darin bestehen könnte, sich sowohl dem Thema als auch der Sprachform performativ zu verweigern. Wer nach der Lektüre von Büchern wie All Fours, Heiss oder von allseits herumgereichten, an cringe alles andere als armen Ratgebern wie Women on Fire13 oder von philosophisch inspirierten Sachbüchern wie Mitte des Lebens14 erwartet, dass sich unter einem Titel, in dem »Midlife« vorkommt, konkrete, mehr oder weniger geschlechtsspezifische Reflexionen zum Thema Lebensentscheidungen, körperliche Veränderungen oder soziale Lage versammeln müssten, wird bei Mara Genschel erst einmal umdenken müssen.
Das war bereits 2022 absehbar, als sie bei ihrer Lesung im Rahmen der Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt einen Beitrag Das Fenster zum Hof. Aus dem Amerikanischen von Jürgen Bauer und Edith Nerke vortrug, der nun in Midlife-Prosa ebenfalls enthalten ist. Genschel trat dort mit einem prächtigen angeklebten Schnurrbart auf und las ihren Text in einer Beiläufigkeit, die den Eindruck erwecken konnte, sie denke ihn sich im Vortragen überhaupt erst aus. Dabei sprach sie mit einem als amerikanisch zu interpretierenden Akzent.15 Die Reaktionen reichten damals von Ratlosigkeit zu ratloser Genervtheit, von genervter Aggression bis hin zu größter Heiterkeit und Erleichterung darüber, dass in diesem Text endlich einmal nicht die Hände einer sterbenden Oma beschrieben wurden (auch wenn das so niemand sagte).
Der Text, dessen Titel sich den eines der Klassiker des filmischen Voyeurismus leiht, um direkt mit der Behauptung anzutreten, es handele sich um den besten Titel, den sich der Erzähler je ausgedacht habe, inszeniert in vier Teilen eine Beobachtungssituation. Da ist zum einen die des Erzählers, eines Drehbuchautors, der nach Kreuzberg gezogen ist, um eine Krimiserie zu schreiben. In seiner Wohnung sitzend beobachtet er auf der anderen Straßenseite ein Pendant zu seinem Fenster. Hinter diesem Fenster lebt die Lyrikerin Martha Gescheul, die der Erzähler bei ihren Schreibversuchen, vor allem aber -hemmungen beobachtet: »Manchmal schien es mir, als sei ihre schiere, potenzielle Beobachtbarkeit der einzige Inhalt ihres schriftstellerischen Tuns.«
Gerade die Tatenlosigkeit der Autorin bringt dann das Schreiben des Erzählers in Gang. Als Projektionsfläche für all das, was sich in der öden Wohnung gegenüber abspielen könnte, was dort zu finden sein könnte, Fantasien darüber, ihren Platz einzunehmen und zurückzuschauen, in die eigene Wohnung; die Erzählung schreibt sich wie von allein: »Wie ein junger Teen sprang ich die letzten, vollgekotzten Stufen durch das Treppenhaus hinab und trat mit der lässigsten Geste meines Lebens hinaus auf die Straße.« Es folgt eine kurze Herausgeberfiktion, in der die im Titel annoncierten Übersetzer des Textes etwas zu dessen fragmentarischer Form und zum Verschwinden seines Autors, des Erzählers von Das Fenster zum Hof, mitteilen.
Das Spiel mit Beobachtungen zweiter Ordnung, Erzählinstanzen, Ironisierung von Genres und der Vermischung von Gattungen ist für die Arbeit von Mara Genschel, die derzeit literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln unterrichtet, konstitutiv und überschreitet auch in Midlife-Prosa die Medialität des Buchraums, in dem ihre Auseinandersetzung mit der Mitte des Lebens stattfindet. Im sechsten Abschnitt von Sieben frei erzählte Lesungen für kleines Geld führt ein QR-Code aus dem Buch hinaus in eine auf dem Streamingdienst Bandcamp zu hörende Performance des Textes, den nun mitzulesen oder lediglich anzuhören das Publikum selbst entscheiden muss, es gibt keine Anweisung dazu. Die Entscheidung über den perfomativen Charakter dieses (auch in anderen Werken der Gegenwartsliteratur, siehe zum Beispiel Maren Kames’ Halb Taube, halb Pfau, angewendeten) Verfahrens wird zwischen der Autorin, die ihre Lesung ja schon längst beendet hat, wenn ihre Leserinnen zum Handy greifen, um den QR-Code zu scannen, und ihrem Publikum geteilt. Letzteres muss selbst entscheiden, in welcher Weise es in den Lese- und Interpretationsvorgang des Textes einsteigen möchte.
Genschels Midlife-Prosa ist um keinen Pennälerscherz verlegen, und wollte man das titelgebende Thema unbedingt in ihrem Werk dingfest machen, so könnte das über ein affirmatives Verhältnis zu Kalauern, Flachwitzen und Sprachspielen gelingen, die – wie beispielsweise in der Geschichte vom »anusköpfigen Johannes« – eventuell auch den Humor eines adoleszenten Publikums treffen könnten. Genschels Verwendung dieser Elemente ist dabei allerdings nicht mit einer adoleszenten Regression zu verwechseln, wie sie von den oben genannten Psychiatern Levinson oder Gould diagnostiziert wurde. Vielmehr stellt bei Genschel die ständige Durchkreuzung der Annahme, Ernsthaftigkeit sei vor allem durch Auslassung von Heiterkeit zu erreichen, eine grundsätzlich ironische Haltung dar.
Die Offenheit für Unentschiedenheit und Ambivalenz, die dadurch zum Ausdruck kommt, ist in dem Reigen aktueller Texte über die Mitte des Lebens (von Frauen und von Männern) einzigartig, und bei aller Mühe, die es machen mag, dem Haken schlagenden Text zu folgen, ist er eine hochwillkommene Lockerungsübung.
Die Wissenschaftshistorikerin Susanne Schmidt trifft im Schlussteil ihres Buches eher beiläufig die Feststellung, dass es in der Auseinandersetzung mit der Midlife Crisis letztlich um die Frage geht, »worauf es im Leben eines Menschen ankommt und wie man leben soll – oder kann«. Die Debatte, die ihrer Meinung nach darüber geführt werden sollte, beinhaltet glücklicherweise mittlerweile eine ganze Reihe von Zugängen zum Thema, die von der lustbetonten Ästhetik Julys über die Naturkunde der eigenen Biografie bei de Velasco bis hin zu den formbewussten Sprachspielen Genschels reichen. Vielleicht lässt sich so auch der Mangel an attraktiven Skripten und Vorbildern, der in de Velascos Heiss immer wieder beklagt wird, doch zu einem Vorteil ummünzen. Die Regale der Midlife-Literatur sind noch dünn besiedelt, die Klassiker des Genres können Verstärkung brauchen. Freiwillige vor, es gibt ohnehin kein Entkommen.
Erving Goffman, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität [1975]. Aus dem Amerikanischen von Frigga Haug. Berlin: Suhrkamp 2024.
Stefanie de Velasco, Heiss. Liebeserklärung an die Wechseljahre. Hanser Berlin 2025.
Dieser Text erkennt an, dass es auch Personen in der Menopause gibt, die sich selbst nicht als Frauen identifizieren und dementsprechend auch nicht von anderen als solche identifiziert werden sollten. Da die Literatur, um die es geht, jedoch an dem kulturell, sozial und sprachlich konventionalisierten Konzept »alternde Frau« /»Frau« arbeitet, wird es hier in allem Respekt vor allen nonbinären Identitäten verwendet.
Die beschriebene Skulptur hat starke Ähnlichkeit mit einer Skulptur von Isabelle Albuquerque, die in einer Installation zu sehen war, die die Bildhauerin gemeinsam mit Robert Therrien im Herbst 2024 in Los Angeles ausstellte (gagosian.com/quarterly/2024/11/25/interview-isabelle-albuquerque-robert-therrien/). Albuquerque, die in einem Instagram-Post von July auftaucht, in dem diese schreibt, sie wolle dieses Foto sichern, um in ihrem Stream dorthin scrollen zu können, stellte am 27. April 2024 wiederum in einem Instagram-Post der Weltöffentlichkeit ein Bild eines von ihr errichteten Altars für All Fours zur Verfügung. Die Rezeption des Romans ist ohne die Social-Media-Plattform Instagram, die sich wie alle anderen Produkte von Meta seit der erneuten Übernahme der Präsidentschaft der USA durch Donald Trump dessen autoritärem Programm geschmeidig andient, nicht denkbar. Eventuell übersehe ich etwas, aber dieser Punkt wird von der ansonsten um keine selbstreflexive Schleife verlegenen July, die ebenfalls auf Instagram unter anderem ihre Unterstützung für Trans-Kinder dokumentiert (einer Gruppe, die unter Trump II besonderer Gefahr ausgesetzt ist), nicht thematisiert.
Miranda July, All Fours. New York: Riverhead Books 2024.
Miranda July, Auf allen vieren. Übersetzt von Stefanie Jacobs. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2024.
Zum Beispiel Alexandra Schwartz, Miranda July turns the lights on. In: New Yorker vom 10. Mai 2024 (www.newyorker.com/magazine/2024/05/20/miranda-july-profile); Jenessa Abrams, Standing on the Cliff of Motherhood. In: Los Angeles Review of Books vom 13. Mai 2024 (lareviewofbooks.org/article/standing-on-the-cliff-of-motherhood-on-miranda-julys-all-fours/); Lara Feigel, All Fours by Miranda July review – larger than life. In: Guardian vom 16. Mai 2024 (www.theguardian.com/books/article/2024/may/16/all-fours-by-miranda-july-review-larger-than-life).
Outtakes sind unter mirandajuly.substack.com/p/the-human-body-experience nachzulesen; eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob und falls ja, wann man Kinder bekommen sollte, ist unter mirandajuly.substack.com/p/whether-to-have-kids-weather-to-have einsehbar. Das Forum für Beiträge ihres Publikums findet sich unter mirandajuly.substack.com/p/your-non-traditional-marriages-part-06c.
Eine Darstellung der vielfältigen und ausufernden Kommentierung des Romans und seines Inspirationspotenzials findet sich in Zoe Williams, »This book is my bible!« In: Guardian vom 24. Dezember 2024 (www.theguardian.com/lifeandstyle/2024/dec/24/this-book-is-my-bible-the-women-who-read-miranda-julys-all-fours-then-blew-up-their-lives).
Susanne Schmidt, Midlife Crisis. Von den feministischen Ursprüngen eines Männer-Klischees. München: Goldmann 2025.
Schmidt führt als große Publikationserfolge unter anderem die erste kommerzielle Ausgabe von Our Bodies, Ourselves an, einem Handbuch des Boston Women’s Health Collective, das ab 1980 auch in Deutschland erschien. Aber auch Sammelbände wie Woman in Sexist Society (1971, hrsg. v. Vivian Gornick u. Barbara Moran) oder Sisterhood is Powerful (1970, hrsg. v. Robin Morgan) weist Schmidt als Anfänge einer feministischen Publizistik aus, die in den 1970er Jahren in den USA den gesellschaftlichen Mainstream bestimmte.
Mara Genschel, Midlife-Prosa. Performative Erzählungen. Schupfart: Engeler 2024.
Sheila de Liz, Women on Fire. Alles über die fabelhaften Wechseljahre. Reinbek: Rowohlt Polaris 2020.
Barbara Bleisch, Mitte des Lebens. Eine Philosophie der besten Jahre. München: Hanser 2024.
Es lohnt sich, diese Lesung online anzuschauen – und auch die Jury-Diskussion, bei der es kaum zu einer Auseinandersetzung über das Thema des Textes oder seine sprachliche Form kam (bachmannpreis.orf.at/stories/3155791/).