Heft 916, September 2025

Literaturkolumne

Neues über die Mitte des Lebens von Hanna Engelmeier

Neues über die Mitte des Lebens

Der Soziologe Erving Goffman beschrieb in seiner Studie Stigma die Sorge, die ein stigmatisiertes Individuum stets umtreibe, dass sein Anderssein für andere »unmittelbar evident« sein könne, dabei sei die Misere, diskreditiert (also schon als stigmatisiert erkannt) zu sein, ebenso zu beachten wie die, möglicherweise überhaupt diskreditierbar zu sein (also potenziell, aber noch nicht allgemein als stigmatisiert erkannt).

Die Autorin Stefanie de Velasco erinnert sich in ihrem Memoir Heiss an Goffmans Konzept, während sie in der Bibliothek nach Literatur zum Thema Menopause recherchiert. Keinesfalls, so schreibt sie, habe sie dabei beobachtet werden wollen, wie sie sich mit dem Thema beschäftigte, zu peinlich das Gefühl, als Betroffene identifiziert zu werden oder auch nur als möglicherweise schon demnächst Betroffene. Warum denn eigentlich? Das fröhliche Enttabuisierungsbuch Darm mit Charme wird doch auch im ÖPNV gelesen. Eventuell muss man es so sagen: Ein unter anderem für Verdauung zuständiges Organ zu haben weist einen als Menschen aus, in den Zustand der Menopause zu geraten als alternde Frau.

De Velascos Memoir und einige andere im vergangenen Jahr in ganz unterschiedlichen Genres erschienene Bücher wenden sich derzeit dem Versuch zu, die Genese dieses Stigmas zu verstehen, ihren eigenen Umgang damit zu gestalten und es bestenfalls abzubauen. Das ist nicht so einfach, wie sich de Velasco bei ihrem Versuch zeigt, das Gefühl der Stigmatisierung erst einmal zu ergründen und es radikal umzuwenden. Als prominente Figuren, die ihr als erste Vorbilder für eine Lebensphase einfallen, der sie sich selbst nähert, nennt sie Fräulein Rottenmeier und Camilla Parker Bowles: »Schabracken, Fregatten, Spinatwachteln«, denen ein Leben bevorsteht, das ungefähr so abwechslungsreich und interessant ist wie das »Testbild im Fernsehen«. Dabei hätte ihr allein schon am Leben ihrer eigenen Mutter und dem Zusammenfall von deren Wechseljahren mit ihrer Teenagerzeit auffallen können, wie unrichtig diese Annahme ist. Heiss ist auch eine Hommage an das Leben einer unterschätzten Frau und die Neubewertung des schwierigen Liebesverhältnisses zwischen Müttern und Töchtern.

De Velasco widmet sich sowohl der eigenen Ignoranz, die in Spinatwachtel-Assoziationen zum Ausdruck kommt, als auch deren Ersetzung durch neue Konzepte für das mittlere Lebensalter und den Übertritt ins Alter. Die Schwierigkeit, der sie in ihrem Buch nachgeht, besteht in der Feststellung, was zuerst kam: die eigene Ignoranz oder ein armseliges Rollenangebot für alle, die sich weder mit Heidis Gouvernante noch mit Prinz Charles’ Gemahlin identifizieren können oder wollen. Vorsichtigen Schätzungen zufolge könnte das weltweit eine Mehrheit unter allen potenziell Interessierten sein.

Für diese Gruppe (und auch alle anderen) erschien praktischerweise im vergangenen Mai der neueste Roman der Performancekünstlerin, Regisseurin, Schauspielerin und Autorin Miranda July. All Fours (2024) wird auch bei de Velasco als eines der lang ersehnten, wichtigen kulturellen Artefakte genannt, die in der Lage sein könnten, das Nachdenken über das Leben von Frauen in der zweiten Lebenshälfte zu verändern.

All Fours erzählt die Geschichte einer fünfundvierzigjährigen Performancekünstlerin, die ihrer eigenen Einschätzung nach zwar nur halbwegs berühmt, aber doch so erfolgreich ist, dass sie sich ein Leben ohne Brotjobs in einem behaglichen Heim mit ihrem Mann Harris, einem Musikproduzenten, und ihrem gemeinsamen nonbinären Kind Sam in Los Angeles leisten kann. Als sie eines Tages Tantiemen aus einer ihrer Arbeiten erhält, die zwar erheblich, aber auf ihrem Niveau nicht lebensverändernd sind, entschließt sie sich, mit diesem Geld einen Roadtrip von Los Angeles nach New York zu unternehmen, um dort zum ersten Mal seit längerem etwas Zeit allein zu verbringen. Schon nach einer Stunde Reise wird sie bei einem Halt an einer Tankstelle von einem deutlich jüngeren Servicemitarbeiter namens Davey bedient, dessen Attraktivität ihr derart durch Mark und Bein fährt, dass sie ihre Pläne umwirft, sich in das nächstgelegene schäbige Motel einmietet und dort beginnt, ihrem feuerspeienden Begehren nach diesem Mann nachzugehen und zu versuchen, ihn aus seiner Ehe in ihren Bann zu ziehen.

Zum Einsatz kommen dabei die Umgestaltung ihres Motelzimmers zu einer Art Boudoir (besorgt von der nichtsahnenden Ehefrau ihrer thirst trap, die praktischerweise Dekorateurin ist) und gemeinsame Spaziergänge, verbunden mit dem Versuch, über ihr bisher zur Verfügung stehende Verführungsmethoden etwas zu erreichen (das heißt: Reden). Zunächst gelingt es. Es entsteht eine hitzige, auch physische Intimität zwischen ihnen, was eine etwas schwiemelige Beschreibung für das ist, was bei July als gottloses Rummachen für Fortgeschrittene geschildert wird: Solange kein Küssen und keine Genitalien involviert werden, sieht Davey seine Ehe auf beinahe schon anrührende Weise als nicht kompromittiert an. Die erotischen Fantasien der Heldin scheitern daran. Nicht nur, dass ihr Davey versagt, sie in Handlungen zu übersetzen. Er hat auch keine Intentionen, seine Frau zu verlassen, und sie selbst muss zu ihrer Familie zurückkehren. Ihr Herz ist gebrochen.

Nicht zum letzten Mal: July schickt ihre Protagonistin, auf deren fiktionalem Charakter sie beharrt, im zweiten Teil des Romans in eine weitere Liebesgeschichte, in der ihr ein weiteres Mal Erfüllung vorenthalten wird: Dieses Mal jedoch nicht, wie im Fall des schönen Tankwarts, durch die Verweigerung von Sex, sondern durch einen konsumierenden, gleichgültigen Umgang damit. Diesen pflegt die Künstlerin Kris, in die sich die All Fours-Heldin verliebt und daraufhin eine conscious-uncoupling-Phase mit ihrem Ehemann Harris einleitet, auf die Gwyneth Paltrow, die uns mit diesem Konzept gesegnet hat, nur stolz sein könnte.

In der absoluten Zerschmetterung, die auf die erneute Enttäuschung folgt, betrachtet die Protagonistin einmal eine Skulptur einer befreundeten Bildhauerin, die eine Frau ohne Kopf auf allen Vieren zeigt: »›Everyone thinks doggy style is so vulnerable,‹ Jordi said, ›but it’s actually the most stable position. Like a table. It’s hard to be knocked down when you’re on all fours.‹« Diese den Titel des Buches gewissenhaft aufklärende Stelle ist die in der digitalen Ausgabe des Buches am meisten markierte Stelle. Das Buch endet mit einer Rückkehr in den aufrechten Gang, Druckstellen am Knie, Narben und alles. »Golden light everywhere«, so der letzte Satz, der nun auch den Kreis zu dem auf dem Buchumschlag abgebildeten Sonnenaufgang (oder ist es ein Sonnenuntergang?) schließt.

Möchten Sie weiterlesen?

Mit der beim MERKUR-Newsletter hinterlegten E-Mail-Adresse erhalten Sie Zugang zum vollständigen Artikel.

Noch kein Newsletter-Abonnent? Kostenfrei anmelden.
Nach der Anmeldung erhalten Sie eine E-Mail mit einem Bestätigungslink, den Sie bitte anklicken, um Ihre E-Mail-Adresse zu bestätigen und den Newsletter zu aktivieren. Sie können den Newsletter jederzeit abbestellen.

E-Mail-Adresse erfolgreich überprüft! Die Seite wird in 3 Sekunden neu geladen ...
E-Mail-Überprüfung fehlgeschlagen. Bitte bestätigen Sie Ihre E-Mail-Adresse (Double Opt-In).
Bitte versuchen Sie es erneut.

Weitere Artikel des Autors