Der MERKUR feiert seinen 75. Jahrgang mit einem Streifzug durch das Archiv von 1947 bis heute. Seit Gründung der Zeitschrift schrieben und schreiben hier einige der klügsten Köpfe zu den Themen der Zeit, und eine verblüffende Vielzahl der Texte lässt sich auch Jahre und Jahrzehnte später noch mit großem Gewinn lesen.

Schon allein wegen dieser Fülle stellt die Auswahl der hier versammelten Texte keine repräsentative Chronik des MERKUR dar, sondern versteht sich als Sammlung von Leseempfehlungen, die Neugier wecken und zu eigenen Erkundungen anregen soll.

Jede Woche schalten wir auf dieser Seite neue Texte frei, die kostenlos zu lesen sind.

Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
Ihre

Redaktion MERKUR

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1947 | Max Bense: Über den Essay und seine Prosa

Es darf niemanden verwundern, wenn ein Logiker sich anschickt, über subtilere Fragen der Prosa, ihrer Form, ihres Stils ein paar Dinge zu sagen, die sonst nur Kritiker oder Meister literarischer Geschöpfe zu äußern pflegen. Mir scheint es an der Zeit zu sein, die schönen und vollendeten Elemente literarischen und dichterischen Geschmacks sowohl am esprit geometrique wie am esprit de finesse zu spiegeln. (lesen…)

1948 | Ernst Robert Curtius: Goethe als Kritiker

Die literarische Kritik hat im deutschen Geistesleben keine anerkannte Stelle. Deutschland hat keinen Sainte-Beuve gehabt und konnte ihn wohl auch nicht haben. Literarische Kultur ist bei uns Sache verstreuter Einzelner, nicht Bedürfnis des lesenden Publikums. Ein gesicherter Bestand literarischer Tradition fehlt. Was als Dichtung produziert wird, pflegt als „Weltanschauung“ konsumiert zu werden. (lesen…)

1949 | Gottfried Benn: Ein Berliner Brief

Ich bin in der besonderen Lage, seit 1936 verboten und aus der Literatur ausgeschlossen zu sein und auch heute weiter unverändert auf der Liste der unerwünschten Autoren zu stehen. Ich kann mich daher nicht entschließen, mit einem beliebigen Beitrag nach so langer Zeit wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen… Ich selber müßte den Beitrag nach Art und Umfang genau bestimmen können (lesen…)

1950 | Max Brod: Israel Chronik

„Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ — diesen Satz als Grenzscheide zwischen Judentum und Christentum zu fixieren, ist ein oft versuchter, aber unexakter Schritt. Denn Weltflucht, Weltentsagung hat auch innerhalb der jüdischen Geistesentwicklung zuweilen ihre Stätte gehabt (worüber in Prof. G. Sholems umfassendem Buch „Major Trends in Jewish Mysticism“ im Hinblick auf die asketischen Neigungen einer gewissen (lesen…)

1951 | Simone Weil: Ilias: Dichtung der Gewalt

Der wahre Held, der wahre Gegenstand, das Zentrum der Ilias ist die Gewalt. Die Gewalt, wie sie von den Menschen geübt wird, die Gewalt, die die Menschen unterwirft, die Gewalt, vor der das Fleisch der Menschen zusammenschrumpft. Unaufhörlich wird die menschliche Seele durch ihre Beziehungen zur Gewalt gewandelt, sie wird fortgerissen, geblendet durch die Gewalt, die sie zu beherrschen glaubt, gebeugt durch den Zwang der Gewalt, den sie erleidet. (lesen…)

1952 | Carl Schmitt: Die Einheit der Welt

Die Einheit der Welt, von der ich hier spreche, ist nicht die allgemeine biologische Einheit des Menschengeschlechts, auch nicht die Art Ökumene, die sich von selbst versteht und die trotz aller Gegensätze unter den Menschen in irgendeiner Form zu allen Zeiten irgendwie vorhanden war. Es ist auch nicht die Einheit des Weltverkehrs, des Welthandels, des Weltpostvereins oder ähnliches, sondern etwas Schwierigeres und Härteres. (lesen…)

1953 | Erwin Schrödinger: Unsere Vorstellung von der Materie

Bevor ich versuche, dem Thema, so gut ich kann, gerecht zu werden, muß ich zwei Dinge vorausschicken. Erstens kann der Physiker heute innerhalb seines Forschungsgebietes nicht mehr in sinnvoller Weise zwischen Materie und irgend etwas anderem unterscheiden. Wir stellen ihr nicht mehr Kräfte und Kraftfelder als etwas davon Verschiedenes gegenüber, sondern wir wissen, daß die Begriffe in eins zu verschmelzen sind. (lesen…)

1954 | Karl August Horst: Hase und Igel

Es wird nie ganz auszumachen sein, was den Erfolg eines Romans bedingt. Handelt es sich aber um Bücher, die einer bestimmten Zeitlaune Rechnung tragen, so wird man zumindest sagen können, daß ihr Erfolg davon abhängt, wie weit sie dem Identifizierungsbedürfnis des Lesers entgegenkommen. Das heißt: je individueller geformt, je eigenwilliger und konsequenter in der Selbstkritik der Held eines solchen Buches ist (lesen…)

1955 | Geno Hartlaub: Brief an einen Vermissten

Es ist tief in der Nacht, ich kann Dir die Stunde nicht sagen, denn ich habe die kleine Weckuhr zwischen den Kissen versteckt. Der aufdringliche Ton ihres Tickens hat mich eben aus einem Traum geweckt, er drängte sich ein in die atemlose Stille, durch die Du auf mich zukamst, über den unbegehbaren Weg einer Landschaft, die wie unter einem Glassturz in künstlichem Sphärenlicht lag. Erst war es nur eine leise Unruhe (lesen…)

1956 | Golo Mann: Der goldene Mittelweg

Die folgenden Denkfragen sind mir beim Geschichtsunterricht oder dem Schreiben über geschichtliche Gegenstände untergekommen. Sie sind alt und oft behandelt. Aber ein jeder erfährt sie ein wenig anders. Wir wollen die historische Wirklichkeit begreifen, ordnen, schön gestalten. Zu zeigen, daß sie nicht sinnvoll geordnet werden kann, ist leicht, der Sophist, der Nihilist tut es. (lesen…)

1957 | Günter Anders: Brecht-Portrait

Als ich heute zu Br.s kam — es war sehr heiß, man saß im Garten, H. spritzte, schwimmen gehen sie (damit das im normalen Arbeitsleben erst gar nicht einreiße) ziemlich selten —, da saß in Badehose, braun, zottig und O-beinig Gr., der Schauspieler; der bereits fünf leergetrunkene cans Bier vor sich aufgebaut hatte, bei Br.; und wirkte neben ihm (nicht zuletzt, weil dieser angezogen und wie stets nüchtern war) wie ein Gorilla. (lesen…)

1958 | Hans Magnus Enzensberger: Vergebliche Brandung der Ferne

Die Sonnenflamme schoß immer näher herauf an die entzündeten Morgenwolken — endlich gingen am Himmel und in den Bächen und in den Teichen und in den blühenden Taukelchen hundert Sonnen miteinander auf, und über die Erde schwammen tausend Farben, und aus dem Himmel brach ein einziges lichtes Weiß. (lesen…)

1958 | Margret Boveri: Nachruf auf ein Abendblatt

Die Zeitung, von der hier die Rede ist, die jetzt von einem Abend- in ein Morgenblatt verwandelt wurde, konnte nur an einem Ort der unbegrenzten Möglichkeiten entstehen. Unbegrenzte Möglichkeiten finden sich im Chaos, im Neuland und in total zerstörten Gebieten. Von allen diesen Elementen war etwas im Berlin des Jahres 1945 enthalten — am beherrschendsten die tiefgreifenden und großflächigen Auswirkungen der Selbst- und Feindzerstörung, das Chaos (lesen…)

1959 | Ludwig Marcuse: Aus einer deutschen Diaspora

Am Ostersonntag 1939 kamen wir auf dem „Präsident Harding“ in New York an. Ich hatte keine Ahnung, wer Präsident Harding gewesen war . . . und von New York wußte ich nur, daß es dort Wolkenkratzer gibt. Der Steward hatte uns immerzu „turkey“ (Truthahn) angeboten — und wir hatten immer abgelehnt. Was sollten wir mit der Türkei? (lesen…)

1960 | Ernst Forsthoff: Die Bundesrepublik Deutschland

Mißt man die Bundesrepublik als verfaßtes Gemeinwesen mit den Maßstäben der traditionellen Staatsrechtslehre, so ergeben sich erstaunliche Antinomien. Keines der klassischen Merkmale der Staatlichkeit: Staatsgebiet, Staatsvolk, souveräne Staatsgewalt trifft auf die Bundesrepublik zu. Es fehlen die anerkannten und rechtsgültig fixierten Grenzen, und damit (lesen…)

1961 | Alfred Andersch: Das Kino der Autoren

Die Grundbehauptung Andre Bazins, des zu früh gestorbenen Chefs der Cahiers du Cinema, war die Forderung nach dem „cinema impur“. Er definierte damit die neuen französischen Intentionen. Dementsprechend kann Enno Patalas, der vorzügliche deutsche Filmkritiker, über Resnais‘ Hiroshima mon amour schreiben: „Kein anderer Film dementiert so nachdrücklich die vorgefaßten Konzeptionen (lesen…)

1962 | Helmuth Plessner: Die Legende von den zwanziger Jahren

Die zwanziger Jahre haben es zur Zeit sehr gut bei uns. Der Expressionismus steht wieder in hohem Ansehen. Die Drei-Groschen-Oper ist nicht totzukriegen und selbst die Schlager von damals erleben eine Renaissance. Kaum eine wissenschaftliche Disziplin —ich erinnere an die einflußreichen Schulen der Phänomenologie, der neukantischen Tradition und (lesen…)

1963 | Arnold Gehlen: Das gestörte Zeit-Bewußtsein

Manche Leser werden selbst zu den Menschen gehören, die das dolce far niente bloß noch in der Badewanne erleben können, die so etwas ist wie eine umgekehrte Insel: aus Wasser bestehend, brechen sich an ihrem Rande die geräuschvollen Stürme des Festlandes. Das erfüllte und wunschlose, die Gegenwart ein- und ausatmende Nichtstun geht dann sehr bald (lesen…)

1964 | Werner Hofmann: Architektur und »bloßes Bauen«

Die neue St. Gallener Hochschule für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, inmitten eines locker bebauten Villenviertels auf einer Anhöhe oberhalb der Stadt gelegen, zählt zu den wichtigsten Bauten der beiden Nachkriegsjahrzehnte. Man wird das Datum ihrer Entstehung bald in jedem Handbuch finden und von da an die bestandene Feuerprobe eines neuen Architekturwollens datieren. (lesen…)

1965 | Marie Luise Kaschnitz: Eisbären

Endlich, dachte sie, als sie hörte, wie sich der Schlüssel im Türschloß drehte. Sie hatte schon geschlafen und war erst von diesem Geräusch aufgewacht; nun wunderte sie sich, daß ihr Mann im Vorplatz kein Licht anmachte, was sie hätte sehen müssen, da die Tür zum Vorplatz halb offen stand. Walther, sagte sie, und fürchtete einige Minuten lang, es sei gar nicht ihr Mann (lesen…)

1966 | Wolfgang Weyrauch: War ich ein Nazi?

Ich frage mich: war ich einer davon? (die Frage belegt, daß ich einer war)

im ersten Jahr besuchte ich meine Eltern, wir gingen spazieren, es war mitten am Tag, also konnte man erkennen, wen man traf, trotzdem sagten die Eltern Herrn und Frau M. nicht Guten Tag, als die beiden grüßten, ich war verwundert, drehte mich nach den M.’s um (lesen…)

1967 | Kurt Sontheimer: Studenten auf Kollisionskurs

Über zwölf Tausend Menschen, Berliner Studenten aller Hochschulen, gaben am 8. Juni dem 6 Tage zuvor von dem Kriminalbeamten Kurras in der Nähe der Deutschen Oper erschossenen Studenten Benno Ohnesorg das letzte Geleit. Zur gleichen Stunde war das Berliner Abgeordnetenhaus zu einer Sitzung zusammengetreten, in der über die Vorfälle (…lesen)

1968 | Hannah Arendt: Walter Benjamin  I. Der Bucklige

Dies ist der erste von drei Teilen einer großen Studie, die es unternimmt, im Bilde eines Mannes, der zu den spannungsreichsten Geistern seiner Zeit gehörte, zugleich den Geist einer ganzen Epoche einzufangen, gleichsam zu konzentrieren. Der zweite und dritte Teil dieses wichtigen Beitrags zu der im Moment so lebhaften Diskussion (…lesen)

1968 | Hannah Arendt: Walter Benjamin  II. Die finsteren Zeiten

»Derjenige, der mit dem Leben nicht lebendig fertig wird, braucht die eine Hand, um die Verzweiflung über sein Schicksal ein wenig abzuwehren …, mit der anderen Hand aber kann er eintragen, was er unter den Trümmern sieht, denn er sieht anderes und mehr als die anderen, er ist doch tot zu Lebzeiten und der eigentlich Überlebende.« (…lesen)

1968 | Hannah Arendt: Walter Benjamin  III. Der Perlentaucher

Sofern Vergangenheit als Tradition überliefert ist, hat sie Autorität; sofern Autorität sich geschichtlich darstellt, wird sie zur Tradition. Walter Benjamin wußte, daß Traditionsbruch und Autoritätsverlust irreparabel waren, und zog daraus den Schluß, neue Wege für den Umgang mit der Vergangenheit zu entdecken. In diesem Umgang wurde er ein Meister, als er entdeckte, daß an die Stelle (…lesen)

1969 | Wilhelm Hennis: Die deutsche Unruhe

Definitionen

Mit der politischen Sprache kann man nicht sorgsam genug umgehen. Die Worte, in denen wir politische Erscheinungen erfassen, tragen alle in sich zur Rechtfertigung oder Mißbilligung dieser Erscheinungen bei. Etwa zu sagen, ein Volk sei von »tiefer Unruhe« erfaßt, beinhaltet sicher etwas völlig anderes als die Aussage, es sei von »hektischer Aufregung« ergriffen, obgleich es sich gewiß um den gleichen Sachverhalt (…lesen)

1970 | Carola Stern: Wenn eine Frau sich emanzipiert

Es begann mit dem Aufschrei meiner Freunde »Die ist total verrückt geworden«. Doch entzündete sich die Empörung späterer Kollegen nicht an der eigentlichen Sache, also nicht an dem Entschluß, es mit der Politik und Presse zu versuchen; sie galt vielmehr der Wahl des Pseudonyms. Jüdische Freunde fanden es verrückt, sich in Deutschland ausgerechnet mit dem Namen Stern zu schmücken; viele waren (…lesen)

1971 | Dieter E. Zimmer: Bücher: Aspekte einer Strukturkrise

Hinter dem feierlichen Vibrato, mit dem man (anders als bei gewöhnlichen Gebrauchsgegenständen: bei Tischen, Schallplatten, Radioapparaten) von »dem Buch« redet, von der »Krise des Buches«, der »Zukunft des Buches«, verbergen sich ein alter Respekt und eine alte Scheu. Es ist eben jener Respekt und jene Scheu, die die Leute davon abhalten, eine Buchhandlung zu betreten wie (…lesen)

1972 | Georg Picht: Wissenschaftliche Politikberatung und Umweltschutz

Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik — seit Platon eines der großen Themen der politischen Theorie — wird durch die Bedrohung unserer natürlichen Umwelt in ein neues und unheimliches Licht gerückt. Wir sind im Begriff, unsere eigene Biosphäre zu zerstören, weil Politik und Wirtschaft bedenkenlos mit den Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung spielen, und weil (…lesen)

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