Heidegger, abermals

Ende der siebziger Jahre, als meine erste Auseinandersetzung mit Martin Heidegger erschien, war es durchaus schon möglich, zu einem allgemeinen Bild seiner Verwicklung in den Nationalsozialismus zu gelangen. Guido Schneebergers 1962 veröffentlichte Nachlese zu Heidegger enthielt die wesentlichen Texte. Hier konnte man die ultranationalistischen und nazifreundlichen öffentlichen Verlautbarungen finden, die Heidegger während seines

Rektorats an der Universität Freiburg abgegeben hatte. Neun Jahre früher hatte Karl Löwith in seinem scharfsinnigen, zielsicheren Buch Heidegger. Denker in dürftiger Zeit das für Heidegger zentrale Paradoxon aufgezeigt – die Koexistenz eines Philosophen von überragender Statur und eines aktiven Parteigängers der Barbarei. Weitere Elemente des Falles trugen Karl Jaspers‘ Notizen zu Martin Heidegger (1978) und die erweiterte Auflage von Jaspers‘ Philosophischer Autobiographie bei, die im Jahr zuvor erschienen war. Eine weitgehend apologetische Sicht des Falles stand mit Otto Pöggelers Studie Philosophie und Politik bei Heidegger aus dem Jahre 1972 zur Verfügung. Vor allem konnte jeder interessierte Leser das entscheidende Interview mit Heidegger nachlesen, ein unerträglich schlaues und ausweichendes Interview, das 1976 postum im Spiegel veröffentlicht wurde. Allein dieser Text hätte die Aufmerksamkeit auf das Thema von Heideggers nahezu völligem Schweigen über den Holocaust in den Jahren seines Lehrens und Schreibens nach 1945 konzentrieren sollen. Es ist dieses Schweigen und der eine berüchtigte Satz, der es bricht – ein Satz, in dem Heidegger Auschwitz mit der Praxis der Massentierhaltung und mit der nuklearen Bedrohung gleichsetzt –, was in meinen Augen das gravamen der ganzen tragischen Affäre darstellt. Es ist Heideggers Schweigen nach 1945 und nicht so sehr die dunkle und kitschige Rhetorik von 1933/34, was eine Herausforderung für unser Verständnis darstellt.

Seit 1984 haben die Artikel von Hugo Ott eine unschätzbare, detaillierte Untersuchung der Aktivitäten Heideggers als Rektor, seiner Einstellung zu Kollegen und Studenten und seiner Beziehungen zum Regime in Berlin geliefert (diese Artikel sind im letzten Jahr in Otts Martin Heidegger. Unterwegs zu seiner Biographie gesammelt). Löwiths ruhige, aber vernichtende Anklage gegen Heideggers Verhalten und seine Ansichten in der Mitte der dreißiger Jahre war in Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933 1986 zugänglich geworden. Zahlreiche Aspekte von Heideggers politischer, pragmatischer Rolle und Bedeutung werden in Heidegger und die praktische Philosophie (1988; herausgegeben von Otto Pöggeler und Annemarie Gethmann-Siefert) berührt. Doch es ist unbestreitbar die Veröffentlichung der französischen Fassung von Victor Farias‘ Heidegger und der Nationalsozialismus im Oktober 1987, die den Sturm entfesselte. Seit diesem Datum hat die polemische Literatur fast groteske Ausmaße angenommen. Massenhaft erschienen Artikel und Sondernummern von philosophisch-politischen Zeitschriften. Es gibt jetzt monographische Überblicke über diese Debatte und Bibliographien dazu. Noch trüber und erbitterter wurde die Angelegenheit durch die postume Veröffentlichung gewisser antisemitischer, prodeutscher Artikel, die der junge Paul de Man geschrieben hatte. Es gibt Berührungspunkte, wenn auch von außerordentlich subtiler und verinnerlichter  Art, zum Tumult um Heidegger. In den letzten beiden Jahren war es fast unmöglich, sich über das Gewirr der anklagenden oder apologetischen, humanistischen oder dekonstruktiven Stimmen auf dem laufenden zu halten. Der Fall Heidegger ist jetzt nur zu celebre.

Das ist etwas eigenartig. Farias‘ Buch ist dort, wo es die Philosophie berührt, von äußerster Vulgarität und Ungenauigkeit. Es steckt außerdem voller Fehler nicht nur im Hinblick auf Fakten und Daten, sondern in den  Übersetzungen von Heideggers Texten [1. Gerade erschienen ist die korrigierte deutsche Ausgabe bei S. Fischer in Frankfurt.] (einige davon sind in Thomas Sheehans Artikel über »Heidegger and the Nazis« in der New York Review of Books, 16. Juni 1988, aufgeführt). Sehr wenig bei Farias war nicht schon vorher in den Forschungen Otts oder in einem solchen Zeugnis wie dem von Wilhelm Schoeppe über Heidegger und Baumgarten verfügbar, das am 28. Mai 1983 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien. Dennoch trifft es zu, daß Farias‘ Arbeit eine kumulative Wirkung hat. Schon allein die Ansammlung von Dokumenten und Augenzeugenberichten, vor allem für die Periode 1933-45, ist eindrucksvoll. Trübe Goldkörner sind zutage gefördert worden. Farias hat gezeigt, daß Heidegger log, als er versuchte, die Tatsache zu verbergen, daß er seinen Mitgliedsausweis in der Nazipartei bis 1945 behielt. Er hat das volle Ausmaß von Heideggers psychischem Zusammenbruch nach der Kapitulation des Reiches klargestellt und gezeigt, wie offenkundig unzureichend die Antworten waren, die Martin Heidegger denjenigen gab, die in der Zeit der Entnazifizierungskammern sein Verhalten untersuchten. Den Ausgrabungen von Farias, wie unwissenschaftlich und bösartig selektiv sie auch häufig sein mögen, ist es zu verdanken, daß bestimmte Momente in Heideggers gemeinem Verhalten gegenüber gefährdeten akademischen Kollegen, in Heideggers Bewunderung für den »Führer« und in Heideggers schlauer Überlebenstaktik nicht mehr ignoriert werden können. Doch wie so viele vor ihm und auch heute noch sagt Farias nichts Wesentliches über die mögliche Kongruenz zwischen der Ontologie von Sein und Zeit und dem Aufstieg des Nazismus. Ebensowenig nimmt er die Enormität wahr, die in Heideggers Schweigen nach dem Kriege liegt, darin, daß sich der Philosoph des Seins, der Meisterdeuter von Sophokles und Hölderlin, weigerte, sein Gewissen, seine Reflexion, seinen Diskurs auf die unmenschliche Negation des Lebens zu richten, in der er – sei es rhetorisch, sei es als Mandarin – eine Rolle gespielt hatte.

Sein und Zeit ist in den frühen zwanziger Jahren geschrieben. Es entspringtder Apokalypse von 1918 und dem Klima des Expressionismus. Es geht dem Nationalsozialismus in vollem Umfang voraus. Kein Nazischläger hat es meinesWissens je gelesen oder wäre in der Lage gewesen, es zu lesen. Die Crux,die durch das Problem der Dekonstruktion und solcher Post-Heideggerianer wie de Man noch komplexer wird, ist die: gibt es in Heideggers unvollständiger ontologischer summa Kategorien, Befürwortungen der Inhumanität, Auslöschungen der menschlichen Person, die in irgendeinem Sinn eine Vorbereitung für das nachfolgende Programm des Nazismus darstellen? Ist Heideggers Spiel mit dem Nichts und über das Nichts (ein Spiel, das in engerAnalogie zur Negativen Theologie steht) ein Nihilismus in extremis und nicht, wie es vorgibt, eine »Überwindung des Nihilismus«? Gewiß sind Sein und Zeit und Heideggers Theorie von einer Sprache, die den Menschen spricht, anstatt von ihm gesprochen zu werden, in der modernen antihumanistischen Bewegung äußerst folgenreich. Es gibt wenig im Dekonstruktionismus oder in Foucaults »Abschaffung des Menschen« mit ihren Wurzeln in Dada und Artaud, was nicht in Heideggers A-humanismus ausgesprochen ist – wo mir das privativum des Präfixes allerdings zutreffender und gerechtfertigter erscheint, als es das von In-humanismus wäre. Zweitens gibt es die berühmte Eindringlichkeit des Todes, des Willens zum Tod und der Bewegung auf den Tod zu, in Heideggers Analyse des empfundenen Seins, der menschlichen Individuation. In Pascal und in Kierkegaard verwurzelt, trägt dieses Beharren auf dem Tod dadurch, daß es sich aus theologischen Kontexten zu befreien versucht, eine schwere Last der Negation. Können wir sagen, daß dieses Gewicht die Einstellungen Heideggers und seiner Leser in Richtung auf die makabren Zwangsvorstellungen des Nationalsozialismus verbiegt?

Ich sehe auf keine dieser beiden Fragen eine umstandslose Antwort. Post hoc ist nicht propter hoc. Bücher von der Schwierigkeit und Einzigartigkeit von Sein und Zeit üben nicht in unmittelbarer oder programmatischer Weise ihre Wirkung auf Politik und Gesellschaft aus. Es mag tatsächlich der Fall sein, daß Heideggers Tonlage, daß seine charismatische Regentschaft über gewisse intellektuelle Zirkel im Deutschland der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre einen Beitrag zur Atmosphäre von Verhängnis und Dramatisierung leistete, in der der Nazismus blühte. Intuitiv scheint ein solcher Zusammenhang plausibel. Doch er ließe sich nur demonstrieren, wenn man zeigen könnte, daß bestimmte Texte in Heideggers Opus magnum davon abhängige Argumentations- und Handlungsschritte in Hitlers Aufstieg zur Macht hervorgebracht haben. Trotz der Versuche solcher Heideggerkritiker wie Adorno oder Habermas ist keine derartige Demonstration je überzeugend gewesen. Es könnte durchaus sein, daß wir den Tatsachen zu nahe stehen. Dunkelheit kann ebenso heftig blenden wie Licht; und es kann Jahrhunderte dauern, um beides zu entwirren (man denke an die fortwährenden Debatten über die Politik Machiavellis oder Rousseaus und über ihren Einfluß auf die Politik).

Was mir vollkommen offensichtlich vorkommt, ist das Ausmaß, in dem Heidegger rhetorisch und praktisch-bürokratisch an der Nazifizierung der deutschen Universitätswelt in den Jahren 1933/34 beteiligt war. Wie so viele andere Intellektuelle war Heidegger handgreiflich in die brutale, festliche Trunkenheit verwickelt, die Deutschland nach fast fünfzehn Jahren nationaler Erniedrigung und Verzweiflung überkam. Nackte Macht kann das Temperament des Akademikers und Mandarins faszinieren (Sigmund Freud war eine Zeitlang von Mussolini angetan, und die Denker und Schriftsteller, die vor Stalins Schrein ihre Andacht verrichteten, waren Legion). Zweifellos sah sich Martin Heidegger als erwählten praeceptor Germaniae, als einen Führer im Denken, der eine nationale Auferstehung gestalten würde. Das platonische Vorbild, nicht nur in bezug auf Platons Lehren von einer Philosophenherrschaft, sondern auch im Hinblick auf Platons Rolle als Berater des sizilischen Despotismus, lag nahe. Das Kapitel der Torheit von Philosophen im Hinblick auf politische Angelegenheiten ist lang. Voltaires Judenhaß war rabiat. Freges Rassismus war einer der finstersten Sorte. Sartre suchte nicht nur, sich der Welt des Gulag zu entziehen oder Entschuldigungen für sie zu finden; er verfälschte bewußt, was er von der sinnlosen Roheit der Kulturrevolution im maoistischen China wußte. Es ist ein schlecht gehütetes Geheimnis, daß isolierte Intellektuelle und Menschen, die ihr Leben in Wörter, in Texte vergraben verbringen, mit besonderer Intensität die Verführungen gewalttätiger politischer Angebote erfahren können, ganz besonders dort, wo solche Gewalttätigkeit ihre eigene Person nicht berührt. Es kann im Empfinden und in der Einstellung des charismatischen Lehrers, des philosophischen Absolutisten, mehr als nur einen Anflug von stellvertretendem Sadismus geben (Ionescos Unterrichtsstunde ist eine makabre Parabel auf diesen Zustand).

Diese Beispiele und psychologischen Daten sind keine Entschuldigung. Martin Heideggers Rektoratsrede, seine berüchtigte Ansprache zur Unterstützung von Hitlers Bruch mit dem Völkerbund, seine Elegie auf einen nationalistischen Verbrecher, den die französischen Besatzungsbehörden im Rheinland hinrichteten und den die Nazis zum Märtyrer machten, sind abscheuerregende Dokumente. Sie atmen die Verblendung durch Wildheit und Mystik, die ein kleiner Mensch empfand, der plötzlich ins Zentrum großer politisch-historischer Angelegenheiten versetzt wurde (oder sich vielmehr in dieses Zentrum versetzt wähnte). Im lärmenden Gefolge des Buches von Farias finde ich nichts schmerzlicher, nichts verwirrender als den Entschluß einiger hervorragender Geister, genau diese beklagenswertenTexte zu retten. In Jacques Derridas De l’esprit. Heidegger et la question  [1. Auf deutsch unter dem Titel Vom Geist. Heidegger und die Frage. Frankfurt: Suhrkamp 1988.], in Philippe Lacoue-Labarthes L’imitation des modernes und La fiction du politique finden wir ein umfangreiches, sorgfältig ausgeführtes Plädoyer für ihre ganz zentrale Stellung bei Heidegger, ja in der gesamten modernen politisch-pädagogischen Reflexion. Vergleiche der Rektoratsrede mit Platons VII. Brief, mit Hobbes und Rousseau, sind vorherrschend. Übereinstimmungen werden herausgearbeitet zwischen der undurchsichtigen, kitschigen Rhetorik der Heideggerschen Reden und Artikel von 1933/34 und demVokabular seiner herausragenden Schriften über Ontologie, Metaphysik und Kunst. Wenn wir den Meistern der französischen Dekonstruktion glauben sollen – die ganz zu Recht in Heidegger den Stammvater der ganzen dekonstruktionistischen Hermeneutik sehen –, dann stellt die Rektoratsrede nichts Geringeres dar als eine fundamentale Umwertung der Rolle des Denkens und der Bildung im modernen Staat, und ihre Bedeutung im Hinblick auf solche Begriffe wie »Bewußtsein« und »Schicksal« kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Um das zu glauben, muß man, das wage ich zu sagen, taub für die aufgeblasene Brutalität, für den makabren Kitsch in Heideggers Sprache und Syntax an diesem Punkt sein (die Übersetzung ins Französische, das etymologisierende Zurückgehen bis hin zu Kant und selbst Aristoteles, wie es von Derrida, von Lacoue-Labarthe, von Lyotard praktiziert wird, maskiert die wahre Natur des Originals). Nicht weniger als etwa einige von Bertrand Russells dogmatischen Auslassungen über die Vereinigten Staaten stellen Heideggers akademisch- bürokratische Verlautbarungen bei Hitlers Machtergreifung und unmittelbar danach ein zweifellos bedeutsames, ein zweifellos problematisches, aber auch grundlegend anomales Phänomen dar. Diesem erratum ist von seinen Exegeten ein schlechter Dienst erwiesen worden.

Noch einmal: die disqualifizierende Tatsache ist Heideggers Schweigen nach 1945. Diese erschreckende Enthaltsamkeit fällt zeitlich mit einigen seiner weitreichendsten Werke im Hinblick auf die Natur planetarisch-ökologischer Krisen, in bezug auf die Natur der Sprache und der Künste zusammen. Martin Heidegger arbeitet und lehrt auf dem Gipfel seiner Kräfte in genau den Jahren, in denen er jede Antwort auf die Frage nach dem wahren Wesen des Hitlerismus und der Konsequenz, die Auschwitz heißt, verweigert. Berüchtigt ist, daß er 1953 unverändert in der Einführung in die Metaphysik den bekannten Satz abdruckt, in dem die »unverwirklichte« oder verborgene Wahrheit des Nationalsozialismus erstmals beschworen wurde. Dann gibt es den einen anderen Satz, von dem ich bereits sprach. Im übrigen silentium. Heidegger versäumt in den fünfziger und sechziger Jahren nicht, sich zur amerikanisch-sowjetischen Hegemonie über den Planeten zu äußern und auch zur Zerstörung der Umwelt (auf die er, und das mit großartiger Hellsichtigkeit, schon in den zwanziger Jahren hingewiesen hatte). Wie wir aus dem Spiegel-Interview wissen, legte er sich zur postumen Veröffentlichung eine besonders lügnerische Apologie seiner Rolle in den dreißiger und vierziger Jahren zurecht. Doch der Denker des Seins fand keine Worte zum Holocaust und zu den Todeslagern.

Dieses Vakuum könnte die Folge von Heideggers besonderer Sicht des deutschen Schicksals oder der deutschen »Schickung« gewesen sein, seiner Überzeugung, daß Deutschland und die deutsche Sprache, die sich seinerAnsicht nach nur mit dem Altgriechischen vergleichen ließ, dazu bestimmt, dazu »aufgerufen« waren, sowohl den höchsten Gipfel menschlicher Vollendung in deutscher Philosophie, in der Musik der deutschsprachigen Welt, in der Dichtung Hölderlins – zu manifestieren und zu erfahren wie auch den tiefsten Abgrund. Über die Katastrophe von Auschwitz zu urteilen hieße, in einer unabwendbaren Argumentation über Symmetrie, die ontologisch-historische Einzigartigkeit und Überlegenheit des Schicksals der »Deutschheit« in Frage zu stellen. Ich glaube immer noch, daß in dieser Ansicht Wahrheit oder zumindest eine mitwirkende Wahrheit liegen mag. Aber sie scheint überhaupt nicht mehr hinreichend. Und es ist ein unzweifelhaftes Verdienst der Bloßstellung durch Farias und der Debatte, die sie nach sich gezogen hat, daß das Problem der Stummheit Heideggers nach dem Ende des Reiches und seiner eigenen geschickt eingefädelten Wiedergewinnung von Autorität in grellem Licht in den Mittelpunkt gerückt ist.

Es sind zahlreiche Antworten gegeben worden. Anti-Heideggerianer haben rundheraus erklärt, daß die dunkle, letztlich unentzifferbare Ontologie von Sein und Zeit ein für alle Mal durch die grundsätzliche Unfähigkeit Heideggers bloßgestellt worden sei, »Auschwitz zu denken«, zu sehen, auf welche Weise die Bestialität des Nazismus sich in einem rationalen Verständnis sozialer und politischer Geschichte unterbringen läßt. Heideggers Schweigen nach 1945 würde die Ansprüche seiner Philosophie auf irgendwelche ernsthaften Einsichten in die Conditio humana und in die Beziehungen zwischen Bewußtsein und Handeln in ihrem Kern zunichte machen. Eine eingeschränktere Ansicht ist die, die sich auf Heideggers Kehre, die mutmaßliche »Wende« von der Ontologie von Sein und Zeit zur Austreibung des Menschen aus dem Denken, aus der Rede, aus der Kunst und auf das Wechselspiel zwischen »Erde und Göttern« in seinen späteren Werken bezieht. Im klaren, kalten Licht dieser Deutung des Seienden wäre politische Geschichte, und sei sie apokalyptischer Natur, für jedes strenge »Denken des Seins« unwesentlich. In s.ubtilerer Weise haben Befürworter Heideggers die Idee vorgebracht, daß die Technik des Prozesses der Vernichtung durch die Nazis, des sowjetischen Gulag und der Atomwaffen in emphatischer Weise Heideggers prophetische Analyse des nihilistisch-technokratischen Verfalls der Gegenwart-in-der-Welt des Menschen erfülle. Heidegger habe nur zu sehr recht behalten. Dies zu sagen sei ihm im Nachkriegsklima einfach unmöglich gewesen. Jedes bestätigende Selbstzitat wäre skandalöser gewesen als Schweigen. In einer Weise, die einen erstarren läßt, vertritt Jean-Fran90is Lyotard in seinem Buch Heidegger et »fes juifs«  [1. Die deutsche Ausgabe ist 1988 unter dem Titel Heidegger und »die Juden« bei Passagen/Böhlau in Wien erschienen.] die Ansicht, daß Auschwitz in höchstem Maße jene »Seinsvergessenheit« darstellte, die der Heideggerschen Analyse von Geschichte und Bewußtsein des Abendlands zugrunde liegt. In diesem beherrschenden Kontext wäre das »Vergessen der Juden« (mit Vernichtung als schließlicher Tautologie für Nicht-Erinnern) das vollkommen logische, vorhersehbare Produkt gewesen. Heidegger brauchte jene schreckliche Wahrheit nicht auszusprechen, die für den aufmerksamen Leser in vollem Umfang in seiner Phänomenologie des Existentiellen latent war. Es gibt Leute, die für Geduld plädieren, die mit einiger Berechtigung auf die Unvollständigkeit des Beweismaterials verweisen. So vieles von Heideggers Schriften, von seiner Korrespondenz und dem, was er lehrte, ist immer noch unzugänglich. Zukünftige Dokumente werden vielleicht entscheidendes Licht auf Heideggers Optionen und Entscheidungen nach dem Kriege werfen. Ein entscheidendes und für eine humane Betrachtungsweise akzeptierbares Diktum kann vielleicht noch aus dem umfangreichen Nachlaß auftauchen. Schließlich gibt es, wenn auch wenige, Apologeten Martin Heideggers, für die das große Schweigen des Meisters eine tiefe Anständigkeit und Würde bedeutet. Wenn ich die Einstellung des großen Dichters und Widerstandskämpfers Rene Char oder eines Bewunderers wie Braque richtig verstehe, dann geht sie in diese Richtung. Was hätte Heidegger sagen können? Was außer opportunistischen Banalitäten konnte die Sprache Hölderlins, Kants und Heideggers selbst zum Thema äußerster Bestialität und Selbstvernichtung zu bieten haben? Welcher Philosoph irgendwo hat etwas anderes als mehr oder weniger leere Platitüden über die Nacht zu sagen gehabt, die in den vierziger Jahren über den Menschen kam?

Allein die Verschlungenheit und die Möglichkeit der Überlappung zwischen diesen verschiedenen Versuchen einer Erklärung legt nahe, daß es darin einiges Relevante geben muß. Dem läßt sich die profane Deutung (ich denke, es ist mehr als dies) hinzufügen, daß Heidegger in propria persona ein kleiner Charakter war, ein alternder Mann voller List, voller Ehrgeiz, voll von gewissen tiefsitzenden und »agrarischen« Traditionen des Verbergens und Ausbeutens. Sein Acker hatte vielleicht die Ernte der Hölle getragen, aber er gehörte ihm.

Seit meiner ersten Veröffentlichung zu Heidegger hat dasThema der Beziehungen zwischen Celan und ihm für die Sicht von Heideggers Einfluß zentrale Bedeutung gewonnen, und das noch besonders im Hinblick auf seine Haltung nach 1945. Die ganz wenigen Gelehrten (darunter vor allem Bernhard Böschenstein), die Zugang zu Celans Bibliothek und zu seinen privaten Aufzeichnungen gehabt haben, bezeugen die dauerhafte Intensität der Beschäftigung des Dichters mit Heideggers Werken. Celan hat sich anscheinend ganz detaillierte Anmerkungen zu Sein und Zeit gemacht, und er kannte Heideggers Deutungen von Hölderlin, George und Trakl genau. Was absolut klar ist, ist das Ausmaß, in dem Paul Celans radikal innovatives Vokabular und, an gewissen Punkten, seine Syntax heideggerianisch sind. Zweifellos gibt es oft einen gemeinsamen Ursprung: in barocker und pietistischer deutscher Ausdrucksweise, in Hölderlin, vor allem in Rilke, dessen sprachlicher Einfluß sowohl auf Heidegger als auch auf Celan weitreichend war. Dennoch verwendet Paul Celan unmittelbar Heideggers Namen, um ein lebendiges Zeichen zu prägen. »Heidegängerisch« bewegt sich der Dichter. Zum »heidegängerisch Nahen« wendet sich Celan in Largo, einem seiner am dichtesten von Anspielungen und Selbstanspielungen durchzogenen Gedichte. Martin Heidegger wiederum nahm Celans Lyrik wahr und besuchte, ein seltener öffentlicher Akt, Celans Lesungen. Selbst auf der Basis unvollständiger Dokumentation ist die Intensität und Tiefe der inneren Beziehung greifbar.

Zusammen mit Primo Levi (und beide Männer wählten auf der Höhe ihrer Kraft den Selbstmord) ist Paul Celan der einzige Überlebende des Holocaust, dessen Schriften in einem wahren Maß dem Unaussprechlichen angemessen sind. Nur bei Levi und Celan bewahrt die Sprache in exakter Gegenüberstellung zu untermenschlicher und doch allzu menschlicher Enormität und Endgültigkeit ihre verschwiegene Tonlage. Das Auschwitz-Faktum, das von Deutschen verübte Massaker an den europäischen Juden, durchzieht die Gesamtheit von CelansWerk und Leben. So wäre selbst auf einer rein intellektuellen Ebene die Hinwendung Celans zu Heidegger problematisch. Doch diese Hinwendung war, wie wir wissen, weit mehr als abstrakter Natur. Die beiden Männer waren einander mit seltener Kraft gegenwärtig. Die Kristallisierung dieser gegenseitigen Gegenwärtigkeit war Celans Besuch in Heideggers berühmter Hütte in Todtnauberg wenige Jahre vor Celans Selbstmord. Dieser Besuch und der einzige Zeuge dafür, den wir kennen, das Gedicht mit dem Titel Todtnauberg (1970 in Lichtzwang veröffentlicht), sind zum Gegenstand leidenschaftlicher Untersuchung und Spekulation geworden. Eine hermeneutische Mythologie ist um eine zentrale Dunkelheit herum gewuchert. Sowohl Derrida als auch Lacoue-Labarthe haben der Lyrik und den Bedeutungskomplexitäten, denen sie entsprang, monographische Behandlungen, die zugleich treffend und subtil sind, angedeihen lassen. Von der Begegnung wissen wir nur, was uns Celans rätselhaftes Erinnerungsbild erzählt oder vielmehr nicht zu erzählen vorzieht. Daß es zu einer betäubenden, seelenzerreißendenTäuschung kam, ist unverkennbar. Wie »dunkel durch einen Spiegel«, und dunkler als dunkel, spüren wir in Todtnauberg ein schreckliches Schweigen. Celan kam, um zu fragen, um Heideggers Wahrnehmung oder Nichtwahrnehmung der Shoah in Frage zu stellen, der »Todeswinde«, die Millionen menschlicher Wesen und das jüdische Erbe, das Celans Schicksal durchdrang, zu Asche gemacht hatten. Wenn je ein Individuum das Recht, die Pflicht hatte, nach einer Antwort, und sei es eine Antwort ohnmächtiger Trostlosigkeit, auf die Frage des Unmenschlichen zu fragen, so war es Paul Celan. Als Celan, wie er es tat, seinen Namen in Heideggers Gästebuch setzte, ging er das Risiko eines äußersten Vertrauens in die Möglichkeit der Begegnung, des Auferstehens des Wortes aus einer gemeinsam verbrachten Nacht, ein. Soweit wir wissen – in dem Umfang, wie uns Todtnauberg informiert –, wurde dieses Vertrauen entweder durch triviale Ausreden (wie in dem Spiegel-Interview) oder durch absolutes Schweigen, durch völligen Verzicht auf Reden, zu dem Heidegger auch in pädagogischen Situationen griff, verletzt. Ob so oder so, man kann fühlen, daß die Wirkung auf Celan verheerend war. Doch das Problem geht weit über die persönliche Ebene hinaus. In allen seinen Schriften und I-Iehren hatte Martin Heidegger die Tat des Fragens als entscheidend verkündet; er hatte das Fragen als die Frömmigkeit des menschlichen Geistes definiert. Was auch immer in Todtnauberg geschah, als der herausragendste Dichter in der Sprache nach Hölderlin und Rilke den »heimlichen König des Denkens« anging, es schlug Heideggers eigenem zentralem Sinn für die Heiligkeit des Fragens ins Gesicht. Es mag, zumindest für unsere Epoche, den Bruch zwischen menschlichem Bedürfnis und spekulativem Denken, zwischen der Musik des Denkens, welche Philosophie ist, und der des Seins, welche Poesie ist, unheilbar gemacht haben. Vieles im abendländischen Bewußtsein hat seine Grundlage in der Verbannung der Dichter aus dem platonischen Stadtstaat. In düsterem Kontrapunkt dazu laufen Heideggers Verweigerung einer Antwort an Celan und das Gedicht, das daraus hervorging, auf eine Vertreibung, eine Selbstverbannung des Philosophen aus der Stadt des Menschen hinaus.

Noch eine andere Analyse von Heideggers Enthaltsamkeit im Hinblick auf die Zeit von 1933-45 lohnt vielleicht die Überprüfung. In Heideggers Denken gibt es eine Fülle erkenntnistheoretischer, phänomenologischer und ästhetischer Einsichten. Dieses Denken fordert zu einer Neubewertung gewisser Aspekte der aristotelischen und scholastischen Logik und Rhetorik auf. Es ist nach eigenem Bekunden die umfassendste Argumentation zur Ontologie, zur Faktizität des Existentiellen, die wir haben. Aber es enthält keine Ethik und impliziert auch keine. Heidegger selbst war in diesem Punkt kategorisch. Er verwarf völlig die Versuche, die vor allem von den Marburger Theologen und von gewissen humanistischen Existentialisten in Frankreich gemacht wurden, aus seinenWerken ethische Prinzipien oder Methodologien abzuleiten. Er definierte die Ethik, wie wir sie beispielsweise bei Kant finden und wie wir sie legitimerweise aus dem Hegeischen Historizismus erschließen können, als etwas, was überhaupt nicht zu seinem eigenen streng ontologischen Unternehmen gehörte. Das »Denken des Seins« ist von einer Art, die total anders ist als das präskriptive, normative oder heuristische»Denken des Verhaltens«. In der gewaltigen, von Wiederholungen durchzogenen Masse der Schriften Heideggers ist der markante Mangel ganz genau der des Begriffs des Bösen (soweit wir nicht die Plünderung der natürlichen Welt als etwas auslegen können, was eine radikale Negativität darstellt). Weit über Nietzsche hinaus denkt, empfindet (?) Heidegger in Kategorien jenseits von Gut und Böse. Heideggers Lehre und Bild, wonach der Tod ein »Schrein« ist, in dem das Sein am nacktesten, in reinster Offenbarung gegenwärtig ist, hebt kategorisch (im dialektischen Sinne) das Problem von Gut und Böse auf, da dieses Problem mit Metaphysik in traditionellen Denksystemen verknüpft ist. Hätte Heidegger danach gestrebt, das Böse des Nazismus und seine Rolle darin zu verstehen, hätte er sich bemüht, in einer Tiefe, die dem Erforderlichen wenigstens nahekommt, »Auschwitz zu denken« (und welcher Philosoph hat dies getan?), so wäre die Sphäre des Ethischen unentbehrlich gewesen. Es ist, so möchte ich behaupten, diese Sphäre, die er in seinerAblehnung der Theologie ausgeschlossen hatte, und diese Ausschließung verkrüppelte seine Menschlichkeit.

Ohne eine Ethik, selbstverstümmelt angesichts des Unmenschlichen, bleibt Heideggers Ontologie ein überwältigendes Fragment (wie auch ausdrücklich Sein und Zeit). Bei all seinen tatsächlichen Ausmaßen – wenige Philosophen haben umfangreicher geschrieben oder gelehrt – ähnelt Heideggers Werk durchaus der fragmentarischen, oft esoterischen Methode seiner geliebten Vorsokratiker. Selbst die weitschweifigsten, diskursiven Züge bei Heidegger haben etwas von der Heraklitschen Qualität der plötzlichen Erleuchtung, des »Blitzes welcher sammelt« (so Heideggers umstrittene Deutung eines Gleichnisses bei Heraklit). Was bei Heidegger im besten Falle glüht, ist ein langsamer Blitz. Heidegger wäre der erste gewesen, der die fragmentarische, vorläufige Natur seiner Bemühungen unterstrichen hätte. Er verstand diese als lediglich didaktische, reinigende Vorbereitung auf eine Revolution im Denken und Empfinden, die erst noch kommen sollte. Unsere Unfähigkeit, Heideggers Unfähigkeit, das Sein in einer systematisch verständlichen Weise zu artikulieren, erzählt vom übergangshaften, tragisch zersplitterten Wesen der Moderne. Wie Hölderlin, wie Nietzsche, und in ständiger Bezugnahme auf sie, wird Heidegger buchstäblich von Ahnungen einer revolutionären Rückkehr zur Quelle, einer Kreisbewegung heimwärts (vergleichbar der in der Dichtung und der apokalyptischen Theosophie von Yeats), heimgesucht. Es wird »neue Götter« geben, und nur ihr Kommen, um unsere Mitternacht, kann uns retten. Dieser Begriff der »Rettung« pulsiert in Heideggers Schriften nach der entscheidenden Hinwendung zu Hölderlin und zu Nietzsche in den vierziger Jahren. Er wird in den späterenTexten über Kunst ausdrücklich mythologisiert. Es war, als führte der Feldweg, den Heidegger

als magisches Bild für die Reise des Denkers gebrauchte, zu einigen der entscheidenden Lichtungen in der Soteriologie, in den theologischen Angeboten der Rettung, zurück, die der junge Martin Heidegger zurückzuweisen versucht hatte. Letztlich ist der von Heidegger proklamierte Logos, das Wort, durch welches das Sein ist, wie der abschiednehmende Zwilling des Logos, der im Johannesevangelium die Morgenröte verkündet. Es waren wie für so viele Meistergeister und Macher in unserem Zeitalter des »Nachworts« keine neuen Götter, die am Scheidewege warteten, sondern der alte Gott in seiner ganzen unannehmbaren Dauerhaftigkeit. Heidegger rang gegen diese Begegnung. Die Heftigkeit dieses Kampfes ist der Maßstab für seine Größe. Und für seine Niederlage als Denker, als Mensch.

Doch das ist sicher das Entscheidende. Die einzige Zeitlichkeit, die einzige Sprache, die Heideggers Zweck angemessen wäre, wäre genau die, die Celan definiert hat: »im Norden der Zukunft«. Nur dort können der Wanderer im Schwarzwald und der Sänger des Mandelbaums und des Mandelstamms, der zu Celans einziger Hoffnung erblüht war, sich wieder begegnen.

Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer