Entspannte Verhältnisse
In der FAZ-Ausgabe vom Mittwoch schreiben Susanne Schröter und Ulrich Morgenstern:
„Die Wurzeln der postkolonialen Theorie reichen bis in die antikolonialen Bewegungen zurück, die Gelehrte wie Léopold Sédar Senghor (1906 bis 2001), Aimé Césaire (1913 bis 2008) und Frantz Fanon (1925 bis 1961) hervorbrachten. Sie alle schrieben gegen den europäischen Kolonialismus an und hatten eine ambivalente Beziehung zu Frankreich, dem Land, in dem ihre wissenschaftlichen und politischen Karrieren begannen. Senghor, der von 1960 bis 1980 Präsident des postkolonialen Senegal wurde, nahm eine entspannte Haltung zum Westen ein, was ihm von Linken den Vorwurf einbrachte, im Sinne des Neokolonialismus zu handeln. Senghors Publikationen sind aus den Leselisten postkolonial orientierter Dozenten verschwunden. Die Schriften des unversöhnlichen Kommunisten Césaire und des vom Algerienkrieg traumatisierten Fanon gehören hingegen zum Literaturkanon derjenigen, die den Westen gern als Inkarnation des Bösen darstellen.“
Ausbaufähig an dem Artikel von Schröter und Morgenstein ist das Verhältnis zum historischen Tatsachenbestand. So hätte man etwa erwähnen können, dass Césaire 1956 in einem Brief an den Vorsitzenden Maurice Thorez seinen Austritt aus der kommunistischen Partei Frankreichs erklärt hat. Das Schreiben war nicht weniger als eine schallende Ohrfeige für die der Sowjetunion ergebenen Betonköpfe und sorgte in der französischen Öffentlichkeit für Furore. Wie es zu diesem Bruch kam, schildert David Alliots Le Communisme est à l’ordre du jour, Aimé Césaire et le PCF (2013).
Erste Zweifel kamen Césaire, der 1945 als kommunistischer Abgeordneter ins französische Parlament gewählt worden war, als das Kulturverständnis der Parteioberen zusehends in einem Dogmatismus erstarrte, der auch vor Zensur nicht zurückschreckte. Zu sehen, wie Louis Aragon den Surrealisten André Breton im Namen des „sozialistischen Realismus“ traktierte, stürzte Césaire, der Breton nahestand, in eine Krise. Dass hinderte Césaire allerdings nicht daran, 1953 das „grandiose Werk“ des kurz zuvor verstorbenen Stalin zu würdigen. Erst 1956 ging ihm, nachdem Chruschtschows Abrechnung mit Stalin an die westliche Öffentlichkeit gelangt war, das Ausmaß seiner Selbsttäuschung auf.
Soviel zur Vorgeschichte; der konkrete Auslöser, den Césaire in seinem Schreiben für seinen Bruch mit dem Parteikommunismus anführt, ist gerade für eine postkoloniale Geschichtsbetrachtung von Belang, weswegen es umso seltsamer ist, dass Schröter und Morgenstern ihn völlig übergehen. Es ist nicht in erster Linie die Niederschlagung des Aufbegehrens in Ungarn, sondern das Abstimmungsverhalten der Kommunisten im französischen Parlament, das Césaire zu einem Schlussstrich veranlasst. Die Genossen votierten im März 1956 fast geschlossen für die „pouvoirs spéciaux“, die der französischen Armee im Algerienkrieg sehr weitgehende Rechte übertrugen – manche Forscher sahen darin einen Freifahrtschein für Folter.
Césaire war zunächst der Fraktionsdisziplin gefolgt und hatte ebenfalls für die Sondervollmachten gestimmt. Doch bald darauf setzen angesichts der Kriegsführung der französischen Streitkräfte in Algerien heftige Gewissensbisse ein. Es kam zu einem Sinneswandel und im Oktober hielt Césaire der Partei schonungslos ihre Missstände vor, die da wären: „ihr unverbesserlicher Assimilationismus; ihr untergründiger Chauvinismus; ihre ziemlich primitive Überzeugung – die sie mit der europäischen Bourgeoisie teilt –, der Westen sei auf allen Feldern überlegen; ihr Glaube, dass der Entwicklungsweg, den Europa gegangen ist, der einzig mögliche, der einzig wünschenswerte ist; dass er der Weg ist, den die ganze Welt beschreiten muss; kurz gesagt, ihr selten eingestandener, aber echter Glaube an die civilisation mit einem großen C; an den progrès mit einem großen P. […] Ich bin der Ansicht […], dass es niemals einen afrikanischen, madagassischen oder karibischen Kommunismus geben wird, weil die Kommunistische Partei Frankreichs ihre Verantwortung gegenüber den Kolonialvölkern als eine Art Lehrauftrag begreift und selbst der Antikolonialismus der französischen Kommunisten noch immer den Makel des Kolonialismus in sich trägt, den sie bekämpft.“
Ähnlich nachlässig verfahren Schröder und Morgenstern mit Léopold Sédar Senghor. Dass er von postkolonialen Lektürelisten verschwunden sei, ist schlicht Humbug. Über Senghors Rolle in der Geschichte „Eurafrikas“ wird immer noch leidenschaftlich gestritten, zuletzt im Zuge der Veröffentlichung von Frederick Coopers großartigem Buch Citizenship between Empire and Nation: Remaking France and French Africa, 1945-1960. Es lässt sich allerdings nicht bestreiten, dass man sich gerade auf der aktivistischen Seite des Postkolonialismus mit Senghor schwertut – und das aus Gründen, die bei allen Verdiensten dieses Mannes (zu denken ist hier auch an sein Engagement in der französischen Résistance gegen den Nationalsozialismus) alles andere als fadenscheinig sind. Khadim Ndiaye hat sie 2021 in seinem Essay „Léopold Sédar Senghor, chantre du (néo)colonialisme français en Afrique“ aufgefächert.
Worum dreht sich die Kontroverse? Senghor wollte die französische Kolonialherrschaft nicht abschaffen, sondern reformieren, sodass die Bewohner der Überseeterritorien nicht länger Bürger zweiter oder dritter Klasse sind, sondern den Franzosen in der Metropole als ebenbürtige Mitglieder einer Konföderation gegenübertreten können. Dem Wunsch nach Unabhängigkeit erteilte er eine Absage, und bei mehr als einer Gelegenheit inszenierte sich Senghor als Apologet des französischen Empire. Aus der euro-afrikanischen Konföderation, die ihm vorschwebte und die eine Teilautonomie der Mitgliedsterritorien vorsah, würde das französische Kolonialregime letztlich sogar gestärkt hervorgehen, schwärmte Senghor in La Communauté impériale française (1945). Denn ein solches System „würde das Empire nicht schwächen, sondern zusammenschweißen, da der Dirigent die Aufgabe hätte, die Stimmen der verschiedenen Instrumente nicht mit seiner eigenen Stimme zu übertönen, sondern sie in eine einheitliche Partitur einzufügen, um noch der kleinsten Buschflöte zu ermöglichen, ihre Rolle zu spielen“.
Schlichter Zeitkolorit? Noch zehn Jahre später bekräftigt Senghor seine Überzeugung, diesmal mit warnenden Untertönen: „Das französische Kolonialreich muss sich neu aufstellen“, schrieb er 1955: „In zehn Jahren wird es zu spät sein. Dann wird der wiedererwachte Nationalismus alles zerrüttet haben. Die jungen Afrikaner sprechen, von den Kommunisten angestiftet, nicht mehr von Föderalismus, sondern von Unabhängigkeit.“ Frankreich sei mitnichten ein makelloses Mutterland, aber es zum Sündenbock abzustempeln wäre Senghor zufolge fatal. In diesen Jahren wird der senegalesische Dichter und Politiker bei Auftritten in Frankreich vor jungen Menschen aus den Überseegebieten ausgebuht – eine Erfahrung, die ihm bis dahin erspart geblieben war. Césaire musste sich den Vorwurf gefallen lassen, sein Wirken sei vor allem ein Feigenblatt des französischen Kolonialismus.
Es entbehrt also nicht einer gewissen Ironie, dass Senghor, der nationalen Selbstbestimmungsbestrebungen in Afrika lange mit Skepsis begegnete, zum ersten Präsidenten des unabhängigen Senegal gewählt wurde. Die französischen Politiker jener Zeit erkannten in ihm jedenfalls einen treuen Verbündeten Frankreichs, von dem – im Unterschied zu den antikolonialistischen Aufwieglern – nichts zu befürchten ist. Wie über ein braves Schoßhündchen äußert sich der französische Überseeminister Pierre Pflimlin in seiner Einschätzung Senghors: Zwar sei dessen Verhalten Schwankungen ausgesetzt, aber „aus französischer Sicht ist er ungefährlich“.
Senghor war einer der Gründerfiguren der „Négritude“, einer bedeutenden literarisch-politischen Strömung. Aber selbst dort irritiert, dass die Négritude kein rein kulturelles Phänomen ist, sondern – einige fragwürdigen Formulierungen Senghors lassen diesen Schluss durchaus zu, ohne dass er zwingend wäre – so etwas wie einen rassifizierten Wesenskern aufweist. Nicht zufällig bezieht sich Senghor mehrmals ausdrücklich auf L’Essai sur l’inégalité des races humaines (1853) des Rassentheoretikers Arthur de Gobineau.
Dieser Essenzialismus wurde zum Zankapfel zwischen Senghor auf der einen sowie Césaire und Frantz Fanon auf der anderen Seite. Bei Senghor hat die Négritude fast etwas Naturwüchsiges. So behauptet er, dass Europa und Afrika doch gar keine dekolonial getrennten Wege gehen müssten, schließlich ergänzen sich beide hervorragend: Europa verkörpere den männlichen Part, charakterisiert durch Willensstärke und den Primat diskursiver Vernunft, während Afrika – darin, so Senghor, ganz Frau – für Emotionen und Leidenschaft stehe. Zudem sei Afrika auf den befruchtenden Samen Europas (Wissenschaft, moderne Wirtschaft, usw.) angewiesen. Senghors Schriften sollte man deswegen noch lange nicht vorverurteilen, für die Asservatenkammer sind sie viel zu reichhaltig, aber man kann zumindest verstehen, warum sich die lautstärkere Fraktion postkolonialer Aktivisten kaum noch auf sie beruft. Genau: es war sein „entspanntes“ Verhältnis zum Westen, das verstörte.
Die unbedarfte Urteilsfreude, mit der man im Feuilleton über bedeutende Intellektuelle schwadronieren kann, solange sie nicht weiß sind – Felix Klein hat es in der FAZ mit seinem peinlichen Text über postkoloniale Theorie vorgemacht –, ist bemerkenswert. Man gefällt sich in pauschalisierendem Geschwätz, weil man eh nicht damit rechnen muss, dass jemand mal einen Blick in die Texte dieser Autoren geworfen hat, die nie Teil des eigenen kulturellen Lexikons waren und es wohl auch nicht werden sollen.