• Erwiderung auf Martin Sabrow

    Am 4. Oktober hat an dieser Stelle der Historiker Martin Sabrow auf meinen Text aus dem September-Heft des Merkur geantwortet ("Erfurt zum Beispiel. Zur Frage der Straßennamen"). Ich möchte meiner Erwiderung zwei Bemerkungen voranstellen. Die erste: Ich freue mich über den Beitrag. Wie in meinem Text erwähnt, sind Straßennamen "banale Objekte" (Maoz Azaryahu), und das sind sie erst recht im öffentlichen Diskurs. Diskussionen finden zumeist lokal statt, an Systematisierung mangelt es, eine größere Debatte in der Sache ist folglich begrüßenswert. Was mich zu meiner zweiten Vorbemerkung führt: Mich wundert an manchen Stellen Sabrows Wortwahl. (mehr …)
  • Replik auf Matthias Dell, Erfurt zum Beispiel. Zur Frage der Straßennamen

    Matthias Dells Text war in: Merkur 76, September 2022, S. 41-53, erschienen und ist hier frei online zu lesen Im September-Heft des Merkur hat Matthias Dell in der Diskussion um die Umbenennung deutscher Straßennamen eine polemische Bemerkung an den Zeithistoriker Hanno Hochmuth gerichtet, die ich nicht unwidersprochen lassen möchte, zumal sie die Geschichtskulturforschung insgesamt betrifft. (mehr …)
  • Grün, grün, grün ist alles, was ich habe

    Sie wollten wissen, was richtig, richtig gut aussieht, also was der schönste Anblick auf der ganzen Welt ist. Mein Wissen teile ich sehr gern: die Krone einer sehr hoch gewachsenen, alten Kastanie, die nachts von unten von einer Straßenlaterne angeleuchtet wird. Das Blätterdach der Kastanie ist so dicht, dass Sie von unten eine Art grünen Teppich sehen, strukturiert durch die Blätter und deren Adern. Natürlich kann der Lampenschein nicht die gesamte Krone beleuchten, sondern immer nur einen Teil des dichten, grünen Laubwerks. Aber Sie können sogar im Dunkeln erahnen, wie viel mehr Grün da noch ist. So ein Baum hat ja mehr Blätter, als man schnell oder überhaupt zählen kann; jeder Baum ist ein Zeichen von Überfluss, mehr Grün, mehr, mehr, mehr! Am allerbesten sieht der Lichtkreis auf den Blättern aus, wenn die Kastanie gerade aufgekerzt hat und weiß blüht (rot ist auch okay, aber weiß ist am besten), am zweitbesten sieht es davor und danach aus. (mehr …)

  • Reise nach Pomurien

    Ich war über Wien mit dem alten Mercedes gekommen, der braucht seine Pausen, deshalb war ich spät dran. Der Schinkenpalast hatte eigentlich Ruhetag, hatte nur für uns geöffnet, deswegen fand ich sie gleich, verloren in einem Gastraum ohne Gäste, rustikal und riesig. Alle vier saßen schon am Tisch und redeten, schlechtes Englisch mit vier verschiedenen Akzenten. Sie sprachen einander nicht mit Namen an, sondern sagten Germany, Italy, Czech zueinander, so dass auch ich selbst mich ab dem dritten Handschlag Bavaria nannte. Der Fahrer stellte sich als Fahrer vor, und mein letzter Handschlag galt einer jungen Frau, die sich im Gespräch zurückhielt. Ich nannte mich Bavaria, und sie gab mir auf Deutsch zur Antwort: Ich bin Alina. Da saßen also Italien, Tschechien, der Fahrer, Alina und ich. (mehr …)

  • Bin ich da schon drin? Zur Frühgeschichte der Netzliteratur

    Der Tod ist seit jeher Anlass, sich zum Gedenken an die Verstorbenen zu versammeln. Welche Formen die Anteilnahme in Zeiten von Social Media findet, konnte man im Frühjahr 2021 auf dem Instagram-Profil der Autorin Elke Naters beobachten, deren Partner Sven Lager, eine ehemals prägende Figur der Popliteratur, am 19. April verstarb. »Gestern Mittag ist Sven von uns gegangen«, schrieb Naters in einem Post, den sie wenig später in der Welt zu einem persönlichen Nachruf aufbereitete und auf den eine Reihe von Einträgen folgten, die Weggefährten wie Eckhart Nickel, Christian Kracht, Tom Kummer und Moritz von Uslar zu Kommentaren und Likes animierten. Begleitet wurde der Tod des Autors zudem von zahlreichen Nachrufen im Feuilleton, wo Lagers Biografie zwischen popliterarischem Boheme-Leben, einem religiösen Erweckungserlebnis und gemeinnützigen Projekten in Südafrika und Berlin nachgezeichnet wurde. (mehr …)

  • Für Interpretation

    »In place of a hermeneutics we need an erotics of art.« Mit dieser Forderung schloss Susan Sontag 1964 ihren Essay Against Interpretation. Seit Platon und Aristoteles hätten sich Ästhetik, Kunst- und Literaturkritik auf die Inhalte konzentriert und vor allem versucht, in Texten und Kunstwerken tiefere Bedeutungen zu ergründen. So befreiend Interpretation in anderen Kulturen sein könne, in der Gegenwart sei sie »reactionary, impertinent, cowardly, stifling«. Statt um Inhalte sollten sich Kritiker um die Form kümmern und vor allem ihre Sinne wiederentdecken: »We must learn to see more, to hear more, to feel more.« (mehr …)

  • Tiflis

    Meine Tifliser Freundin Khatuna hat sich in den zwei Jahren der Corona-Pandemie die Augen verdorben. Weil sie wegen ausbleibender Touristen ihren Beruf als Reiseleiterin nicht mehr ausüben konnte, nahm sie einen schlechtbezahlten Job im Callcenter des Otto-Versands an, der ihr 500 Euro im Monat dafür bezahlt, dass sie die Anrufe deutscher Kunden entgegennimmt, die bei ihr einen Kühlschrank bestellen wollen oder sich über ausbleibende Lieferungen beschweren. Nach zwanzig Jahren in Hamburg spricht sie ein tadelloses Deutsch mit norddeutschem Akzent, was ihr gelegentlich einen Heiratsantrag von Anrufern aus den Hansestädten einbringt, aber nicht verhindern konnte, dass sie vom Starren auf den Bildschirm kurzsichtig wurde. (mehr …)

  • Die Mär vom großen Austausch

    Die Rede vom »Großen Austausch« unterstellt eine von liberalen Regierungen bewusst angestrebte Auswechslung der weißen (und christlichen) Mehrheit im Globalen Norden durch nichtweiße, überwiegend muslimische Einwandererfamilien aus dem Globalen Süden. Das Mittel dazu sei eine durch die Öffnung der Grenzen mögliche Masseneinwanderung; die diesbezügliche Einlassung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, das sei zu schaffen, gilt Anhängern dieser Verschwörungstheorie als Beleg für das Vorliegen eines gezielten Plans. (mehr …)

  • Ludwig Feuerbach und die Philosophie der Zukunft

    Im Jahr 1843 konnte man in den Anekdota zur neuesten deutschen Philosophie und Publicistik lesen: »Und es gibt keinen andern Weg für euch zur Wahrheit und Freiheit, als durch den Feuer-bach. Der Feuerbach ist das Purgatorium der Gegenwart.«1 Der Satz wird meist dem begeisterten Feuerbach-Leser Karl Marx zugeschrieben, es gibt jedoch auch die These, er stamme von Feuerbach selbst.2 Falls das stimmt, dann zeigt der Text, wie klar sich Feuerbach über seine philosophiegeschichtliche Stellung war. Seit dem Sensationserfolg seiner Hauptschrift Das Wesen des Christentums von 1841 war Feuerbach eine feste, wenn auch hochumstrittene Größe im Kosmos der deutschen Philosophie. (mehr …)

  • Paranoia, Ressentiment und Re-enactment. Der russische politische Diskurs über den Ukraine-Krieg

    Auf der Suche nach Antworten auf die Frage, warum die Russische Föderation am 24. Februar 2022 einen großangelegten, für die meisten Beobachter überraschenden Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, brachte die russische Autorin Maria Stepanova Anfang März die These ins Spiel, es könnte sich dabei um eine Art opuskanie handeln.1 Der Begriff, der sich im Deutschen ungefähr mit »Herabsetzung« wiedergeben lässt, bezeichnet im Jargon des russischen Gefängnisses die Praxis der Gruppenvergewaltigung eines Insassen durch seine Zellennachbarn. (mehr …)